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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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Gift, das ist noch was anderes. Es trifft mit blinder Präzision. Diese Versuchung kann euch überall auflauern. Sie ist ein Gedanke, eine Richtung, ein Geräusch in eurem Kopf, eine Ahnung, eine Intuition, die euch tiefer in die Dunkelheit führt, als ihr es euch je vorstellen könnt.
    Ich saß wie festgewachsen da, von einer unerklärlichen Angst gepackt.
    Wir reichten uns im Kreis die Hände und senkten die Köpfe und beteten das Ave-Maria, das man in diesem Reservat auch als Nicht-Katholik kennt, weil die Leute es zu jeder Tages- und Nachtzeit im Supermarkt, in der Bar oder im Schulflur vor sich hin murmeln. Wir beteten zehn davon und erwähnten jedes Mal die Frucht deines Leibes, eine Formulierung, die Zack unglaublich fand und immer ausließ, aus Angst, dass er loslachen würde. So in etwa ging es den ganzen Tag weiter – mit Geständnissen, Erbauungsreden, Tränen, Gebeten. Gruseligen Momenten, als wir einander in die Augen starren mussten. Ich fand sie gruselig, weil ich in Toasts Augen starrte, die unergründliche, kohlschwarze Löcher waren und einem Jungen gehörten, was ja von daher schon sinnlos war. Cappy durfte Zelia ansehen. Es sollte eine Seelenbegegnung sein, ein spirituelles Erlebnis. Aber Cappy sagte, er hätte den schlimmsten Ständer seines Lebens gehabt.
    * * *
    Die unstete Energie, die von meiner Mutter Besitz ergriffen hatte, war verbraucht, und sie ruhte sich aus – aber auf der Wohnzimmercouch, nicht hinter der verschlossenen Zimmertür. Als ich nach Hause kam, lud mein Vater mich ein, mich zu ihm auf einen rostigen Küchenstuhl neben dem Gemüsegarten zu setzen. Es war ein kühler Abend, und der Wind raschelte in den Eschenahornbüschen an der Grundstücksgrenze. Neben der Garage klapperte die große Schwarzpappel. Mein Vater lehnte den Kopf zurück, um die Strahlen der langsam sinkenden Sonne einzufangen.
    Ich hatte ihn nach dem verdammten Aas gefragt, und er überlegte, was er sagen sollte.
    Wer ist es?
    Mein Vater schüttelte den Kopf. Die Sache ist die, sagte er. Die Sache ist die. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig. Er wird demnächst dem Richter vorgeführt, der entscheiden wird, ob er angeklagt werden kann. Aber selbst damit könnten wir schon anunsere Grenzen stoßen. Sein Anwalt hat einen Antrag auf Freilassung gestellt. Gabir bleibt am Ball, aber er hat nicht genug Beweismittel. Die meisten Vergewaltigungsfälle kommen gar nicht erst so weit, aber dafür haben wir ja Gabir. Die Verteidigung spricht schon davon, das BIA zu verklagen. Obwohl wir wissen, dass er es war. Obwohl alles perfekt zusammenpasst.
    Wer ist es? Warum hängen die ihn nicht einfach?
    Mein Vater vergrub den Kopf in seinen Händen, und ich sagte, es täte mir leid.
    Nein, schon gut, sagte er düster. Ich wünschte auch, dass ich ihn hängen könnte, das kannst du mir glauben. Ich phantasiere schon davon, der Richter in einem alten Wildwestfilm zu sein; ich würde ihn mit Freuden verurteilen. Aber außer solchen Cowboyphantasien ist da auch noch die traditionelle Anishinaabe-Rechtsprechung. Damals hätten wir uns zusammengesetzt, um über sein Schicksal zu entscheiden. Nur das heutige System …
    Sie weiß nicht, wo es passiert ist, sagte ich.
    Mein Vater ließ das Kinn auf die Brust sinken. Wir können nirgendwo ansetzen. Es gibt keine klaren Zuständigkeiten, keine genaue Beschreibung, wo das Verbrechen stattgefunden hat. Er drehte ein Stück Papier um, malte einen Kreis auf die Rückseite und tippte mit dem Bleistift auf den Kreis. Es war der Beginn einer Landkarte.
    Das ist das Rundhaus. Gleich dahinter haben wir die Smoker-Parzelle, die inzwischen so aufgesplittert ist, dass sie praktisch keiner mehr nutzen kann. Dann ein Streifen Privatgrund, der verkauft worden ist. Das Rundhaus selbst liegt am Rand des Stammeslandes, das in den Zuständigkeitsbereich unseres Stammesgerichts fällt, außer natürlich, wenn es um einen Weißen geht. Dann greifen Bundesgesetze. Das hier unten am See ist auch Stammesland. Aber auf der einen Seite davon gibt es diese kleine Ecke vom State Park, wo die staatlichen Gesetze greifen. Und auf der anderen Seite, die Weide und der Wald, das gehört noch zum Rundhaus-Grundstück.
    Okay, sagte ich, den Blick auf die Skizze gerichtet. Klar. Warum kann sie sich nicht einfach einen Ort aussuchen.
    Mein Vater drehte sich zu mir um und sah mich lange an. Die Haut unter seinen Augen war grauviolett. Seine Wangen hingen lose herunter.
    Das kann ich nicht von ihr verlangen. Und damit

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