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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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Ich zog einen Stuhl mit gepolsterter Sitzfläche neben das Bett. Ich dachte, sie wollte, dass ich ihr vorlas. Clemence und mein Vater suchten ihre Lektüre aus – nichts Trauriges oder Verstörendes. Also bekam sie entweder langweilige Liebesgeschichten (Harlequin Romances) oder alte Bände von den Reader’s Digest Condensed Books (besser). Oder eben die Lieblingsgedichte für die ganze Familie . Dad hatte »Invictus« und »High Flight« angekreuzt, und ich hatte sie vorgelesen. Meiner Mutter hatten sie ein trockenes Lachen entlockt.
    Jetzt streckte ich die Hand aus, um die Nachttischlampe anzuschalten – dass ich das Rollo hochzog und Licht durch das Fenster hereinströmen ließ, würde sie nicht wollen. Bevor ich den Schalter berühren konnte, packte sie meinen Arm. Ihr Gesicht war ein blasser Fleck in der dämmrigen Luft, ihre Züge vor Erschöpfung wie verschmiert. Sie war gewichtslos geworden, war nur noch Haut und Knochen. Ihre Finger krallten sich festin meinen Arm. Ihre Stimme klang belegt, als wäre sie gerade erst aufgewacht.
    Ich habe euch gehört. Was habt ihr da draußen gemacht?
    Gegraben.
    Was denn gegraben, ein Grab? Dein Vater hat mal Gräber ausgehoben.
    Ich löste mich aus ihrem Griff und wich zurück. Ihr spinnenhaftes Aussehen war abstoßend, und sie sagte so seltsame Dinge. Ich setzte mich auf den Stuhl.
    Nein, Mom, keine Gräber. Ich wählte meine Worte sorgfältig. Wir haben deinen Gemüsegarten umgegraben. Und davor habe ich Blumen gepflanzt. Für dich zum Anschauen, Mom.
    Zum Anschauen? Zum Anschauen?
    Sie drehte sich auf die Seite, von mir weg. Ihr Haar, das in fettigen Strähnen auf dem Kissen lag, war noch schwarz, mit nur ganz wenig Grau dazwischen. Durch das dünne Nachthemd konnte ich deutlich ihre Wirbelsäule sehen; jeder Wirbel sprang vor, und ihre Schultern sahen wie Türknäufe aus. Ihre Arme waren zu Stöcken abgemagert.
    Ich habe dir ein Sandwich gemacht, sagte ich.
    Danke, Schatz, flüsterte sie.
    Soll ich dir was vorlesen?
    Nein, danke.
    Mom, ich muss mit dir reden.
    Schweigen.
    Ich muss mit dir reden, sagte ich noch einmal.
    Ich bin müde.
    Du bist immer müde, aber du schläfst doch dauernd.
    Sie antwortete nicht.
    Ich meine ja nur, sagte ich.
    Ihr Schweigen machte mich fertig.
    Kannst du nicht was essen? Dann würde es dir bessergehen. Kannst du nicht aufstehen? Kannst du nicht … wieder lebendig werden?
    Nein, antwortete sie schnell, als hätte sie darüber selbst schon nachgedacht. Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, warum. Ich kann es einfach nicht.
    Sie drehte mir immer noch den Rücken zu, und ein leichtes Zittern breitete sich von ihren Schultern aus.
    Ist dir kalt? Ich stand auf und zog ihr die Decke über die Schultern. Dann setzte ich mich wieder hin.
    Ich habe die gestreiften Petunien gepflanzt, die du so gern magst. Hier! Ich kramte all die kleinen beschrifteten Plastikstreifen aus meinen Hosentaschen und verstreute sie auf dem Bett. Ich habe alle möglichen Blumen gepflanzt, Mom. Ich habe Wicken gepflanzt.
    Wicken?
    Ich hatte gar keine Wicken gepflanzt. Ich wusste selbst nicht, warum ich das sagte. Wicken, sagte ich noch einmal. Und Sonnenblumen! Sonnenblumen hatte ich auch nicht gepflanzt.
    Sonnenblumen werden riesig!
    Sie drehte sich wieder zu mir und starrte mich an. Ihre Augen waren eingesunken und grau gerändert.
    Mom, ich muss mit dir reden.
    Über die Sonnenblumen? Die werden allen anderen das Licht wegnehmen, Joe.
    Vielleicht sollte ich sie umpflanzen, sagte ich. Ich muss mit dir reden.
    Ihr Gesicht wurde ausdruckslos. Ich bin müde.
    Mom, haben sie dich nach dieser Akte gefragt?
    Was?
    Sie starrte mich mit plötzlich aufflackernder Furcht an, ihre Augen wie gebannt auf mein Gesicht gerichtet. Es gab keine Akte, Joe.
    Doch, gab es. Die Akte, die du holen wolltest, bevor du angegriffen wurdest. Du hast mir gesagt, dass du eine Akte holen wolltest. Wo ist sie jetzt?
    Aus der Furcht in ihrem Gesicht wurde lebhafte Angst.
    Das habe ich nicht gesagt. Das hast du dir eingebildet, Joe.
    Ihre Lippen bebten. Sie rollte sich zu einem Ball zusammen, presste die verschrumpelten Fäuste an ihren Mund und kniff die Augen zu.
    Mom, hör mir zu. Willst du denn nicht, dass wir ihn kriegen?
    Sie öffnete die Augen. Ihre Augen waren schwarze Löcher. Sie antwortete nicht.
    Mom, hör mir zu. Ich werde ihn kriegen, und dann verbrenne ich ihn. Ich töte ihn für dich.
    Sie setzte sich plötzlich auf, wie von den Toten auferstanden. Nein! Du nicht. Bloß nicht. Hör

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