Das Haus im Moor
Mitleid mit ihr haben, so viel sie wollten, aber niemand sollte es wagen, in ihrer Gegenwart auch nur ein Wort gegen Hannah Kerry zu sagen. Hannah hatte ihr ein erfülltes und befriedigtes Leben geschenkt, daß sie nicht gehabt hätte, wenn ihre Ehe den normalen Verlauf genommen hätte. Denn Seans Liebe, da war sie sicher, wäre ohne Kinder im Laufe der Zeit abgekühlt.
Liebe ist quälend, sie ist erfüllend,
Liebe ist Glückseligkeit, wenn sie jung ist.
Aber wenn sie älter wird und die Tage kälter,
verblaßt sie wie die Morgendämmerung.
So sagte die alte Ballade, und die Worte stimmten. Sean schenkte ihr jedoch trotz der fortgeschrittenen Jahre eine Liebe, die sogar von Bewunderung gefärbt war. Niemand kannte Sean O’Connor so wie sie ihn kannte, nicht einmal Hannah. Nein, nicht einmal Hannah. Sie wußte, daß er Hannah nicht liebte – er hatte sie benutzt, damit sie ihm Söhne und Töchter schenkte. Er war freundlich zu ihr, und er würde niemandem erlauben, ein falsches Wort zu ihr zu sagen. Aber er hatte keine Liebe für sie. Doch Hannah liebte ihn. Deshalb war sie über das Meer zurückgekommen – nicht um ihre Kinder, sondern um deren Vater wiederzusehen.
»Hörst du den Haufen da?« Hannah deutete auf die Tür. »Wie ein ganzes Regiment!«
»Sie sollen nach hinten gehen und sich waschen«, sagte Florence hastig. »Nicht, daß unser Besuch ausgerechnet jetzt kommt.«
»Na los, weg mit euch!« Hannah stand in der Zwischentür. »Hört ihr mich? Schert euch nach hinten und wascht euch, bevor ich euch Beine mache. Und seht zu, daß eure Gesichter glänzen wie eine Speckschwarte!«
»Da hinten?« protestierte Barney.
»Genau, da hinten!« sagte Hannah, packte ihn am Ohr und zog ihn zur Hintertür, die in das angrenzende Cottage führte. »Und ihr beide«, rief sie Davie und Michael zu, »hört sofort mit dem Theater auf. Wenn ihr euch gegenseitig den Schädel einschlagen wollt, dann erledigt das draußen.«
»Ich werde hier nicht die zweite Geige spielen.« Michael schob Davie vor sich her. »Ich bin älter als er.«
»Zweite Geige!« Davie schüttelte sich vor Lachen. »Du hast verdammtes Glück gehabt, daß du überhaupt dabei bist. Zweite Geige, so’n Quatsch …«.
»Was ist hier los?« Die Stimme hinter ihnen unterbrach das Wortgefecht, und als die Frage wiederholt wurde, sah Davie zu Vincent auf und erklärte atemlos: »Ich bin ausgerutscht. Aber er war’s, er stößt mich immer …«
»Ich war’s nicht, Davie, du warst es selbst Schuld. Nur weil du glaubst, du hast was im Kopf, muß ich immer die zweite …«
»Jetzt ist Schluß! Ihr habt gehört, was Hannah gesagt hat, oder etwa nicht?«
Sie gingen an Vincent vorbei, und gemeinsam mit Joseph, der gerade dazukam, grinsten sie Vincent an. Davie bemerkte mit spitzer Zunge: »Das ist dein bester Anzug, Vin. Tanzt du nachher noch einen Ceilidh oder …?«
Vincent packte seinen jüngeren Bruder am Ohr, zog ihn zu sich heran und antwortete: »Nein, ich tanze keinen Ceilidh, aber ich werde dir sagen, was passieren wird. Wir könnten in den Kuhstall gehen, wo ich jemandem die Hosen ausziehen und das Hinterteil versohlen werde, weil er frech zu mir war. Was hältst du davon?«
Davie grinste breit. »Ach, laß doch, Vin. Laß mich los. In einer Minute ist das Wasser so dreckig, daß ich frisches heranschleppen muß.«
»Hör mir gut zu«, sagte Vincent jetzt ruhig. »Benimm dich am Tisch, denk dran. Keinen Quatsch und keine Spielchen, wenn wir Besuch haben. Hast du mich verstanden?«
»Klar, Vin.«
Vincent ließ ihn los, und Davie rannte hinter seinen Brüdern her. Vincent wußte, daß Florence und Hannah ihn anstarrten, und er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
An der Haustür traf er seinen Vater. »Fast vierzehn Liter hat sie gegeben. Darüber können wir uns nicht beschweren, nicht wahr?«
»Nein«, antwortete Vincent. Er stand auf der Treppe und sah in den Hof. Er war von Geräuschen erfüllt: dem Summen des Generators hinter der verschlossenen Tür des Schuppens, dem gedämpften Grunzen der Schweine, dem Gezeter und Gegacker der Hühner, der Unterhaltung der Tauben auf dem Dach, dem Muhen aus dem Kuhstall. Das Zusammenspiel dieser Geräusche klang in seinen Ohren genauso lieblich wie eine Symphonie für einen Musikliebhaber.
Er sah Kathy entgegen, die durch die Lücke in der Mauer trat, und als sie bei ihm war, fragte er: »Irgendwas von ihnen zu sehen?«
Sie schüttelte den Kopf, und er sah auf seine Uhr. »Es
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