Das Haus in den Wolken
schwer und sie kriege Beinschmerzen davon«, entgegnete Gladys beleidigt.
»Ach so. Dann vielleicht lieber das Kaschmirtuch.«
»Wie Sie meinen, Mr. Carrington. Aber jetzt muss ich weitermachen. Ich bin sowieso schon hinterher.«
Edward bedankte sich und überlieà sie ihrer Arbeit.
Beim Essen erzählte er seiner Mutter von seinem Arbeitstag. Mrs. Carringtons Beiträge zum Gespräch beschränkten sich auf kurze Einwürfe und Bitten, ihr die Butter zu reichen. Obwohl sie seit vielen Jahren kränkelte, litt sie nicht unter Appetitmangel. Als Edward die Anekdoten ausgingen, drängte er seine Mutter liebevoll, ihm zu berichten, wie sie den Tag verbracht hatte. Sie war wegen ihres Rheumas schlecht zu Fuà und saà deshalb viel am Fenster zur StraÃe und beobachtete das Kommen und Gehen im Haus. Jeder Besucher wurde registriert, und irgendwie, dank was für einer Methode wusste Edward bis heute nicht, wurde herausgefunden, wohin er wollte. Seine Mutter kannte die Namen sämtlicher Hausbewohner und war über das gesundheitliche Beï¬nden und die ehelichen Probleme jedes Einzelnen unterrichtet.
Beim Pudding sagte sie: »Diese Mrs. Pritchard hatte heute Besuch.«
Gladysâ klumpiger Pudding sah wenig verlockend aus. Vorsichtig probierte Edward ein Löffelchen voll. »Ach, ja?«
»Es war wieder ein Mann«, erklärte Mrs. Carrington vielsagend. »Er sah aus wie ein reisender Vertreter oder etwas Ãhnliches. Er hatte so ein kleines Köfferchen bei sich.«
»Vielleicht war Mrs. Pritchard die Möbelpolitur ausgegangen.«
Mrs. Carrington schnaubte geringschätzig. »Die ist keine Hausfrau. Nein, ich vermute, es war wieder einer ihrer Freunde .« Ãber den Tisch hinweg blickte sie Edward an. »Du nimmst dir doch nicht noch mehr Marmelade, Edward? Du solltest wirklich nicht so viel SüÃes essen. Du siehst schon richtig schlecht aus.«
»Ich habe eine Erkältung, sonst nichts, Mutter«, sagte Edward und verzichtete auf die Marmelade zum Pudding.
Nach dem Essen setzten sie sich zum Kaffee ans Feuer und hörten Radio. Edward konnte sich nicht erinnern, dass seine Mutter je ganz gesund gewesen war. Sicher war es ihr gut gegangen, als er noch klein gewesen war, aber er hatte keine Erinnerung daran. Sein Vater war gestorben, kurz nachdem Edward mit neunzehn die Schule abgeschlossen hatte, und danach hatte sich der Gesundheitszustand seiner Mutter drastisch verschlechtert. Vor fünf Jahren hatten sie ihr Haus in Surrey verkauft und waren nach London umgezogen. Edward vermisste das Haus und die ländliche Umgebung, aber der Umzug nach London hatte unbestreitbare Vorteile â die Wohnung war leichter sauber zu halten, sein Weg zur Arbeit war kurz, und seine Mutter war in der Nähe der besten Ãrzte in der Harley Street.
Edward hatte ursprünglich eine Erdgeschosswohnung im Auge gehabt, aber seine Mutter hatte den StraÃenlärm und Einbrecher gefürchtet, deshalb hatten sie sich für die erste Etage entschieden. Wenn seine Mutter ausgehen wollte, nahm sie den Aufzug und ging dann am Stock zu Fuà zu ihrer Freundin, Mrs. Collins, die auf der anderen Seite des Platzes wohnte, oder zu Mrs. Dixon, wo sie einmal in der Woche Bridge spielte. Samstagnachmittags fuhr Edward seine Mutter zum Odeon am Leicester Square. Mrs. Carrington sah Kriminalï¬lme und Liebesï¬lme gleich gern, ihr Lieblingsï¬lm war Der Gefangene von Zenda mit Robert Colman in der Hauptrolle. Sie hatte ihn fünfmal gesehen.
Um zehn Uhr schaltete Mrs. Carrington das Radio aus und ging zu Bett, nicht ohne Edward zu ermahnen, keinen Lärm zu machen, wenn er sich später zurückzog. Edward schenkte sich einen Whisky ein, wobei er darauf achtete, dass nichts klirrte, und schlug seinen Margery-Allingham-Kriminalroman auf. Obwohl er von der Erkältung Kopfschmerzen hatte, wäre es ihm wie Verschwendung vorgekommen, diese kostbare abendliche Stunde allein zu opfern, um sich mit heiÃer Schokolade und Aspirin ins Bett zu legen.
Auch die Stunde direkt nach der Arbeit hielt er sich immer frei. Als sie von Surrey nach London umgezogen waren, hatte er seiner Mutter weisgemacht, er habe erst um sechs Uhr Dienstschluss. Durch die Lüge hatte er eine Stunde für sich gewonnen, in der er seine eigenen Freundschaften und Interessen pï¬egen konnte. Er ging mit Arbeitskollegen etwas trinken, traf sich mit Freunden zum Kaffee oder
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