Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
Treppe hinunter, verschreckt, verängstigt, als hätte sie etwas aus einer anderen Welt gesehen.
    Und danach gingen sie alle wieder zur Arbeit.
    Es war jeden Tag ein anderer Weg. Niemand beschwerte sich mehr über überfüllte Waggons in der U -Bahn, denn das war das wenigste. Manchmal fuhr ein Zug; wenn keiner kam, nahm Ruby den Bus, den man mit Handzeichen anhalten musste. Die Busse waren eine echte Herausforderung – sie fuhren ohne jede Kennzeichnung, denn die Nennung eines Fahrtziels hätte den Invasionstruppen helfen können, den Weg zur Whitehall oder wohin auch immer zu finden. Und dann kurvten die Busse um Bombenkrater und Trümmerhaufen herum oder um abgesperrte Bereiche, in denen Blindgänger niedergegangen waren. Ein Lastwagenfahrer, der sie von der Brompton Road bis zur Westminster Bridge mitnahm, erzählte ihr, dass am Tag zuvor der Buckingham-Palast bombardiert worden war, und vor ihrem geistigen Auge sah sie ein vereinzeltes deutsches Flugzeug, das auf die Mall feuerte und auf all die Goldverzierungen, das Mahagoniholz und die Damastvorhänge zielte.
    Wenn keine Züge fuhren und niemand sie mitnahm, ging Ruby zu Fuß. Menschenmengen bewegten sich jeden Tag durch die Stadt, quer durch London, alle waren sie auf Wanderschaft, Stenotypistinnen und Büromitarbeiter, Bankangestellte und Ladenmädchen. Die jungen Frauen elegant in Mäntel und Hüte gekleidet, die Männer mit Regenschirmen und Aktentaschen gerüstet; und auch sie liefen alle um Bombenkrater herum, suchten sich einen Pfad über Trümmerhaufen hinweg, wateten durch Laub, das in den Rinnsteinen lag und in diesem Herbst mit Glasscherben durchsetzt war, und ließen sich ihren Weg diktieren von Blindgängern, umgestürzten Tragbalken und Absperrungen.
    Auf ihren Fußmärschen sah Ruby ein ausgebranntes Haus, das keine Türen und Fenster mehr hatte und dessen verkohlte Öffnungen sie anstarrten wie leere, mit Kajal umrandete Augen; einen Schutzbunker, der direkt getroffen worden war – auf der Straße davor lag ein einzelner rosafarbener Kinderschuh; sie sah einen Feuerwehrmann mit rußig schwarzem Gesicht, der an seinem Feuerwehrauto lehnte und einzuschlafen drohte, und gab ihm ihr Sandwich, das sie eigentlich zum Mittagessen mitgenommen hatte; sie sah John Lewis’s in der Oxford Street, einige Tage, nachdem das Geschäft von einer Bombe getroffen worden war: Nackte Schaufensterpuppen lagen mit verrenkten Gliedmaßen bis auf den Gehsteig verstreut, die Bögen und Säulen des leeren Innenraums erinnerten Ruby an Fotografien von den Ruinen des Kolosseums in Rom.
    Das Schlimmste jedoch waren die Nächte. Die Nächte, die den Tag nicht länger real erscheinen ließen; die Nächte, die es den Menschen unmöglich machten, sich richtig auf etwas zu konzentrieren. Endlose Nächte lang wurde London bombardiert, ohne Unterlass. Manchmal, wenn Ruby Stephens Schnarchen und Paula in ihrem blauen Seidenkleid nicht mehr ertrug, schlief sie in ihrem Bett in ihrem Zimmer. Sie zog sich die Decke über den Kopf, als könnte sie das vor den Bomben schützen, schlief trotz Krachen, Donnern und Gedröhne, erwachte am Morgen und tastete schlaftrunken nach Handtuch, Zahnbürste und Kleidern. Die Fensterscheiben ihres Zimmers waren zerbrochen, und auf dem Fußboden hatten sich unter den Rissen in der Decke kleine Häufchen Putz gebildet. Ein paar Häuser weiter klaffte ein Bombenkrater im hinteren Garten.
    Ruby fegte den Schmutz zusammen, klebte die Fenster ab. Eines Abends wurde sie auf dem Heimweg von einem Angriff überrascht, und sie verbrachte die Nacht in einem öffentlichen Bunker. Auf dem Boden schimmerten Pfützen, denn es hatte geregnet an diesem Tag. Frauen mit Kindern auf dem Schoß saßen auf den Bänken. Die Kinder schrien immer wieder und ließen sich von ihren Müttern kaum beruhigen – nächstes Mal, dachte Ruby, laufe ich trotz Bombenhagel weiter. Am Tag darauf, einem Freitag, fuhr sie nach der Arbeit mit dem Zug nach Andover, um ihre Mutter zu besuchen, und schlief zwölf Stunden am Stück.
    Man gewöhnte sich daran, das war das Komische: Das ständige Sirenengeheul, jeden Morgen die Herausforderung, einen Weg zur Arbeit zu finden, das alles wurde Routine, fast alltäglich. Man dachte mehr über die Laufmaschen in seinen Strümpfen nach als darüber, dass einen jederzeit ein plötzlicher Tod

Weitere Kostenlose Bücher