Das Haus in den Wolken
anderen respektiert. Doch wie klein waren die Freuden ihrer Mutter gewesen, wie hart ihr ganzes Leben!
Ruby bezahlte Mrs. Weston die Rechnung, lieà sich vom Arzt den Totenschein ausstellen, kümmerte sich um die Beerdigung und schluckte ihre Wut darüber herunter, dass ihre Mutter ihre letzten Lebensmonate in einem fremden Zimmer in einer ihr nicht vertrauten Stadt hatte zubringen müssen, und darüber, dass die Beerdigung nicht in der Kirchengemeinde stattï¬nden konnte, der sie seit Jahren angehörte. Hast du etwa vergessen, dass Krieg ist?, ermahnte sie sich selbst voller Bitterkeit.
Mrs. Weston bot ihr mit einem angestrengten, dünnen Lächeln an, zur Beerdigung zu kommen. »Danke, das ist nicht nötig«, sagte Ruby mit einem ebenso angestrengten, dünnen Lächeln. Als sie an jenem Tag jedoch viel zu früh in der Kirche eintraf, fragte Ruby sich, ob sie Mrs. Westons Angebot nicht doch besser angenommen hätte. Vielleicht würde gar keiner kommen. Vielleicht würde sie die einzige Trauernde sein.
Aber dann kamen sie, einer nach dem anderen, in ihren besten schwarzen Kleidern und Hüten, direkt vom Bahnhof. Mrs. Sykes von der Privatpension und der Vikar sowie einige alte Freunde von der Kirchengemeinde in Eastbourne.
Aber weder Tante Maude noch Hannah lieÃen sich blicken. Und auch nicht der Mann, nach dem Ruby gegen alle Vernunft in der Hoffnung Ausschau hielt, er würde in seinem Soldatenmantel und mit in der Herbstsonne blitzenden Messingknöpfen auf den Kirchhof treten. Keine Familie .
Dann jedoch sah Ruby sie, Sara und Isabel, die vom Bahnhof her die StraÃe heruntereilten. Hastig getauschte Küsse und Umarmungen, elegante schwarze Hüte mit Schleiern und die richtigen Worte, genau die Worte, die sie brauchte. Und in der letzten Minute, als sie alle schon in der Kirche waren und der Gottesdienst eben beginnen sollte, kam zu ihrem Erstaunen Richard Finborough.
Ihre Pï¬egefamilie. Der Trost der Freunde, dachte Ruby und weinte, als der Organist die ersten Töne des Chorals anstimmte.
Richard versuchte, an Etta Chance zu denken, doch sein Blick wanderte immer wieder zu Isabel, die in der ersten Kirchenbank neben Ruby stand. Dann zu Sara und dann wieder zu Isabel.
Gleich nach dem Gottesdienst musste er nach London zurückfahren. Er küsste Ruby auf die Wangen und sprach ihr sein Beileid aus, und weil sie so klein und verloren dastand, schloss er sie in die Arme und sagte, falls sie irgendetwas braucheâ¦
Dann sah er sich plötzlich seiner Ehefrau und seiner Tochter, die beide getrennt von ihm lebten, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er sagte zu Sara, wie gut sie aussehe, und Sara erwiderte: »Du auch, Dad«, bevor sie zu Ruby hinüberging und sich mit ihr die Trauergebinde ansah.
Es schmerzte ihn, dass seine Tochter ihn stehen lieÃ.
So stand er nun, ein Stück abseits von den anderen, im Schatten einer Eibe, allein mit Isabel da.
»An dem Tag, an dem ich dich besucht habe â«, begann er.
»Du hast dich geirrt, Richard«, unterbrach Isabel ihn. »Du hast dich geirrt, was mich und Blaze betrifft. Es war nie etwas zwischen uns, und es wird auch nie etwas zwischen uns geben.«
»Ja, es tut mir leid. Ich habe mich idiotisch benommen.«
Er lieà ein wenig den Kopf hängen, dann legte sie ihm leicht die Hand auf den Arm und sagte freundlicher: »Es ist schön, dass du heute gekommen bist, Richard. Du hast sicher sehr viel zu tun. Es bedeutet Ruby eine Menge.«
»Ich habe an den armen alten Nick gedacht«, erwiderte er, und in dem folgenden Schweigen nahm er sie sehr intensiv wahr â den Schwung ihres Haars unter dem schwarzen Hut, den matten Glanz ihrer Augen hinter dem Gewebe des Schleiers.
»Ich muss gehen«, fügte er schlieÃlich an, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und ging zu seinem Wagen.
Kurz nach den ersten deutschen Luftangriffen war Mrs. Carrington zu Freunden nach Harrogate gezogen. Gladys, das Dienstmädchen, hatte London ebenfalls verlassen und war zu ihrer Schwester nach Wales gereist, sodass Edward die Wohnung jetzt für sich allein hatte.
Hin und wieder ging er mit Sara etwas trinken. Eines Abends traf er sich vor dem Britischen Restaurant in St. Pancras mit ihr, wo sie arbeitete, seit Frank sein Café geschlossen hatte, um zur Handelsmarine zu gehen. Sie trug an diesem Abend ein Kleid in einem hellen Blaugrün, der Farbe ihrer
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