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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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ereilen konnte.
    Als Ruby eines Tages ins Büro kam, war das Dach durchschlagen, es regnete durch gähnende Löcher herein, und Mauerstaub und Schutt hatten sich bereits zu bräunlich lehmfarbenem Schlamm vermengt. Die Räume waren voller zerbrochenem Glas und umgekippten Tischen und Stühlen. Jalousien und Vorhänge waren aus den Verankerungen gerissen und hingen herab wie schmutzige Lappen. Überall lagen Akten herum, die durch die Druckwelle der Bombe aus den Schränken geschleudert worden waren. Ein Hausmeister lief zwischen den Trümmern umher und betrachtete benommen die Schäden. Eine Frau richtete eine Topfpflanze auf und blies Mörtelstaub von einer Akte.
    Ruby begann, herumliegende Papiere aufzusammeln. Die Karteikarten, Hunderte von ihnen, mussten alphabetisch, die Bedarfsvermerke und die dünnen Durchschläge der Briefe und Telefonnotizen nach Datum und Betreff sortiert werden. Zwischen allen Aktendeckeln funkelten feine Glassplitter. Ruby öffnete sie, nahm den Inhalt heraus und schüttelte sie über einem Abfalleimer aus.
    Kalte Luft und Regen drangen in die ungeschützten Räume. Sie ließen zum Arbeiten die Mäntel an und die Schals um den Hals gewickelt. Ruby trug knöchelhohe Schaffellstiefel. Es gab weder Elektrizität noch Wasser und daher auch keinen Tee und keine Kantine mehr, und natürlich funktionierten auch die Toilettenspülungen nicht. Um zwei Uhr nachmittags ging sie mit zwei Kollegen zum Lunch in ein Café. Wenn sie sich nicht gerade gegenseitig um den Salzstreuer oder ein Aspirin baten, wechselten sie kaum ein Wort, so müde waren sie. Um vier Uhr standen die Möbel wieder an ihrem Platz, abgewischt und abgestaubt, und die Akten waren wieder in den Schränken verschwunden. Ruby bemerkte die zahllosen feinen Schnitte und Risse in ihrer Haut, schmerzhafte Erinnerung an die vielen Glassplitter.
    An diesem Abend legte sie sich zu Hause sofort aufs Bett, zu müde, um noch etwas zu essen oder sich zu bewegen. Zu müde, um Lewis anzurufen, um Wasser heiß zu machen für eine Wärmflasche. Ruby Chance, dachte sie, die sich einst für so chic gehalten hatte, lag jetzt in feuchtem, schmutzigem Mantel, mit Laufmaschen in den Strümpfen und Mörtel im Haar auf ihrem Bett.
    Es klopfte. Wahrscheinlich Jorge, der sich schon wieder Streichhölzer ausleihen wollte, dachte sie und ignorierte es.
    Es klopfte erneut. Härter, eindringlicher, amtlich.
    Ruby glitt vom Bett und öffnete die Tür. Zwei Polizisten standen davor.
    Â»Miss Chance? Miss Ruby Chance?«, fragte der Ältere. »Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.«

    Ihre Mutter war ganz plötzlich an einem Herzanfall gestorben, und nun lernte Ruby die Schrecken eines unerwarteten Todes kennen. Immer wieder vergaß man ihn ein, zwei Minuten lang, und wenn dann die Erinnerung zurückkehrte, musste man sich erneut mit dem schrecklichen Ereignis vertraut machen.
    Doch der Tod ihrer Mutter hätte Ruby eigentlich nicht unerwartet treffen sollen. Etta Chance hatte seit Jahren ein schwaches Herz gehabt, und die Schrecken der letzten Monate, verbunden mit den Umzügen, mussten es endgültig gebrochen haben. Gebrochen, dachte Ruby, während sie im Hotel in Andover die Sachen ihrer Mutter durchsah. Das Herz ihrer Mutter war schon vor Jahren gebrochen worden, als Nicholas Chance sie verließ.
    All die furchtbaren Dinge, um die man sich nach dem Tod eines nahen Verwandten kümmern musste – das einzig Gute war, dass man so wenigstens abgelenkt wurde. Die Kleidung ihrer Mutter gab sie dem Freiwilligen Hilfsdienst der Frauen, all die handgestrickten Pullover und Jacken, die Strümpfe und Handschuhe und die Schuhe, die so oft neu besohlt worden waren. Die Habseligkeiten ihrer Mutter – alles, was Etta Chance in dieser Welt besessen hatte – fanden Platz in einem einzigen Schrank und einer Kommode. Eine Postkarte, die Ruby ihr vor Jahren aus Cornwall geschickt hatte. Eine Handvoll Fotografien, ein Paar Kinderschühchen. Briefe ihres Vaters, ein Stapel sorgfältig aufbewahrter Zeitschriften, von denen jede eine von Ruby geschriebene Kurzgeschichte enthielt.
    Ihre Mutter und sie hatten einander schätzen gelernt. Ihre Beziehung war nie einfach gewesen – dazu waren sie viel zu verschieden –, doch mit der Zeit hatte ihnen die Gesellschaft der anderen Freude bereitet, hatten sie die guten Eigenschaften der

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