Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
wie wild nickte. »Haben Sie ihn nicht bemerkt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, junge Herren zu bemerken, die unsere Bibliothek aufsuchen.«
»Ich glaube, er hat ein Auge auf mich geworfen«, sagte sie kichernd, wobei sie wieder in seine Richtung linste und anerkennend lächelte. »Wie sehe ich aus, Mr Jatschmenew? Ist mein Lippenstift in Ordnung? Ich habe seit Monaten keinen mehr gehabt, aber heute morgen habe ich hinten in meiner Frisierkommode noch einen gefunden und mir gesagt, Mensch, das bringt Glück , und ihn gleich aufgetragen, um mich in Stimmung zu bringen. Was ist mit meinem Haar? Ich habe eine Bürste dabei. Was meinen Sie, sitzt es so?«
Ich starrte sie an und merkte, dass meine Irritation zunahm. Es war nicht so, dass ich die Frivolitäten, die sich die jüngeren Leute hin und wieder gestatteten, in Bausch und Bogen verurteilte – schließlich war das Leben in letzter Zeit für uns alle nicht nur schwieriger, sondern auch beängstigender geworden. Natürlich gönnte ich jedem einen Moment der Freude, denn solche Momente waren inzwischen rar. Doch der Frohsinn hatte für mich auch seine Grenzen. Von einem gewissen Punkt an konnte ich ihn nicht mehr ertragen. Und das Verhalten von Miss Simpson ging mir, ehrlich gesagt, gehörig auf die Nerven.
»Sie sehen gut aus«, sagte ich und wandte mich ab, um wieder meinen Pflichten nachzugehen. »Und Sie würden noch besser aussehen, wenn Sie sich wieder an die Arbeit machten und Ihre Zeit nicht mit solchen Albernheiten vergeudeten. Haben Sie denn nichts zu tun?«
»Doch, natürlich«, sagte sie. »Ach, kommen Sie, Mr Jatschmenew, zurzeit gibt es herzlich wenig Männer in London. Schauen Sie ihn an! Ist er nicht umwerfend? Wenn er tatsächlich jeden Tag wegen mir hierherkommt, na ja, dann werde ich nicht Nein sagen, verstehen Sie? Vielleicht ist er einfach nur zu schüchtern, um mich anzusprechen. Aber das lässt sich ja leicht herausfinden.«
»Miss Simpson, ich bitte Sie, unterstehen Sie …«
Doch es war bereits zu spät. Sie zog ein Buch aus dem Regal und ging auf den Mann zu. Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, ertappte ich mich dabei, wie ich aus einem morbiden Interesse an meinem Platz verharrte, um zu verfolgen, was wohl als Nächstes geschehen würde. Miss Simpsons Verhalten war immer für einen gewissen voyeuristischen Kitzel gut, den ich hin und wieder durchaus genoss. Sie stolzierte durch den Saal und schwang dabei die Hüften mit der Selbstsicherheit eines Filmstars. Als sie den Mann erreicht hatte, ließ sie absichtlich das Buch fallen, woraufhin dessen harter Einband mit einem lauten, im ganzen Saal widerhallenden Krachen auf dem Marmorfußboden landete, was mich wiederum dazu veranlasste, die Augen zu verdrehen. Als sie sich vornüberbeugte, um es aufzuheben, gewährte sie jedem in ihrer Nähe einen mehr als deutlichen Blick auf ihr Hinterteil und das obere Ende ihrer Strümpfe – es war fast schon unanständig, aber sie war ein hübsches Mädchen, und man hätte stärker sein müssen als ich, um wegzuschauen.
Mr Tweed griff nach dem Buch, und ich sah, wie Miss Simpson lachte, etwas zu ihm sagte und ihm dabei mit den Fingern kurz über die Schulter fuhr. Er streifte ihre Hand jedoch sofort wieder ab und murmelte eine barsche Antwort, bevor er ihr das heruntergefallene Buch reichte. Sie sagte noch etwas zu ihm, woraufhin er einfach das vor ihm liegende Buch zuklappte, um ihr den Titel zu zeigen, und als sie sich vornüberbeugte, um diesen zu entziffern, gewährte sie ihm einen deutlichen Blick auf ihren üppigen Busen – ein Panorama, das ihn jedoch kaltzulassen schien, denn er wandte seinen Blick ab wie ein wahrer Gentleman. Von meinem Beobachtungsposten aus konnte ich erkennen, dass er sich mit Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches beschäftigt hatte, was mich zu der Vermutung veranlasste, dass er möglicherweise Historiker oder Professor war, oder aber er litt an einer Krankheit, die ihn kriegsuntauglich machte. Seine Anwesenheit in der Bibliothek konnte alle möglichen Gründe haben.
Es war nicht verwunderlich, dass Miss Simpson sich so sehr für ihn interessierte. Noch vor wenigen Jahren hätte es in der Bibliothek und im Museum von jungen Männern nur so gewimmelt, doch seit Kriegsausbruch hatte sich das Leben beträchtlich verändert, und die Anwesenheit eines jungen, womöglich ledigen Mannes an einem unserer Lesetische war zweifellos bemerkenswert. Unser Leben wurde
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