Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
weißen Grabsteinen, einer neben dem anderen, und unter jedem liegt einer unserer tapferen Jungen. Die ganze Anlage ist immer picobello sauber. Es ist fast so, als wollten sie einem vortäuschen, es gäbe etwas, ich weiß nicht, etwas Sauberes an der Art und Weise, wie sie ums Leben gekommen sind. Doch das stimmt ja gar nicht. Die Reinheit dieses Friedhofs ist eine Lüge. Deshalb habe ich mir immer gewünscht, er wäre hier, auf irgendeinem Friedhof mit wild überwucherten Bäumen und Hecken und ein paar Feldmäusen. Ich meine, an einem ehrlicheren Ort.«
»War er Infanterist?«, fragte ich. »Offizier?«
»Oh, nein«, sagte sie mit einem Kopfschütteln. »Nein, Georgi, er war zu unbedeutend, um Offizier zu sein. Er hätte auch keiner sein wollen. Er war bei der Somerset Light Infantry – bloß einer der Jungs, nichts Besonderes. Außer für mich natürlich. Er fiel Ende 1914, also gleich am Anfang, wenn man so will. Bis dahin hatte er praktisch noch keine Kampfhandlungen erlebt. Manchmal denke ich, das ist für ihn ein Segen gewesen«, fügte sie hinzu und dachte kurz darüber nach. »Mir haben immer diese armen Jungen leid getan, die erst 1917 oder 1918 gefallen sind, die die letzten paar Jahre ihres Lebens damit verbracht haben, zu kämpfen und zu leiden und Gott weiß was für entsetzliche Dinge mitzubekommen. Meinem Albert ist das wenigstens erspart geblieben. Er ist seinem Schöpfer schon ziemlich früh gegenübergetreten.«
»Aber Sie vermissen ihn noch immer«, sagte Soja leise, wobei sie Rachel bei der Hand nahm, und die Frau nickte und gab einen tiefen Seufzer von sich, während sie gegen die Tränen ankämpfte.
»Ja, das tue ich«, sagte sie. »Ich vermisse ihn jeden Tag. Ich denke daran, was wir noch alles hätten tun können, an all das, was wir noch gemeinsam hätten erleben können. Manchmal macht mich das fürchterlich traurig, und manchmal bin ich so wütend auf die Welt, dass ich laut aufschreien könnte. Dann hasse ich sie alle. Die verdammten Politiker. Gott. Die Kriegshetzer: Asquith und den Kaiser und den Zaren, diese verfluchten Scheißkerle.« Bei diesen Worten zuckte Soja kurz zusammen, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. »Ich hasse sie dafür, dass sie ihn mir weggenommen haben. Einen Jungen wie ihn. Einen jungen Burschen, der noch das ganze Leben vor sich hatte. Aber wem erzähle ich das eigentlich? Sie haben während des Krieges sicher auch viel durchgemacht. Sie mussten Ihre Heimat verlassen. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie das gewesen sein muss.«
»Ja, das waren für uns alle schwere Zeiten«, sagte ich zögernd, denn ich war mir nicht sicher, ob wir dieses Thema noch weiter vertiefen sollten.
»Ich habe meine ganze Familie im Krieg verloren«, sagte Soja, und ich war einigermaßen verblüfft, sie tatsächlich über ihre Vergangenheit sprechen zu hören. »Nicht einer von ihnen hat überlebt.«
»Ach, Sie Ärmste«, sagte Rachel überrascht, wobei sie sich vorbeugte und nun Sojas Hand ergriff. »Das habe ich nicht gewusst. Ich habe immer gedacht, Ihre Angehörigen würden vielleicht noch in Russland leben. Ich meine, Sie sprechen nie von Ihnen. Und jetzt komme ich dummes Ding daher und wecke bei Ihnen all diese schlimmen Erinnerungen.«
»So sind Kriege nun mal«, sagte ich, darauf bedacht, das Thema zu wechseln. »Sie nehmen uns unsere Liebsten, sie reißen Familien auseinander, sie stiften unsägliches Leid. Und warum? Ich habe keine Ahnung.«
»Es ist bald wieder so weit«, sagte sie dann, wobei mich ihr ernster Tonfall überraschte.
»Was?«, fragte ich.
»Es wird wieder Krieg geben. Können Sie es nicht spüren? Ich spüre es. Ich kann ihn fast schon riechen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Europa ist … unruhig, keine Frage. Es gibt Schwierigkeiten und Animositäten, aber ich glaube nicht, dass es wieder zu einem Krieg kommen wird. Jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten. Das möchte doch niemand noch einmal durchmachen.«
»Ist es nicht eine Ironie des Schicksals«, erwiderte sie, nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte, »dass all die Jungen, die in einem gewaltigen Ausbruch von Liebe und Wollust gezeugt wurden, als der Weltkrieg vorbei war, im wehrfähigen Alter sein werden, wenn der nächste beginnt? Es scheint fast so, als hätte Gott sie nur deshalb auf die Welt kommen lassen, damit sie kämpfen und sterben. Damit sie sich vor die Gewehrmündungen stellen und die Kugeln schlucken, die auf sie abgefeuert
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