Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Baumwollstoff ausführte, den Saum seitlich des Fadens wegschnitt und den Arm der Maschine anhob, bevor sie den Knoten abband. Zu Hause hätte das als niedere Tätigkeit gegolten, als eine Arbeit für Muschiks, aber hier in London, zweitausend Kilometer und zwanzig Jahre von St. Petersburg entfernt, war es eine Aufgabe, die meine Frau mit Freude erfüllte. Und zumindest dafür war ich dankbar.
Wenn wir abends tatsächlich einmal Besuch hatten, so handelte es sich in der Regel um Rachel Anderson, die ein- oder zweimal in der Woche an unsere Tür klopfte und dann eine Stunde in unserer Gesellschaft verbrachte, um ihre Einsamkeit ein wenig zu lindern. Wir freuten uns über ihre Besuche, denn sie war eine gute Seele, die nicht nur kam, um mit Arina zu spielen – unsere Tochter vergötterte sie –, sondern auch, um mit uns zusammen zu sein, wodurch sie zwangsläufig Sojas und meine Zuneigung gewann.
Zu Beginn der Weihnachtszeit jenes Jahres saßen wir in unserem zur Straße weisenden Wohnzimmer und hörten uns im Radio gemeinsam ein Konzert an. Arina schlief in meinen Armen, mit halb geöffnetem Mund und mit im Traum leicht zuckenden Augenlidern, und ich verspürte ein fast schon überwältigendes Gefühl der Zufriedenheit angesichts des glücklichen Familienlebens, mit dem ich gesegnet war. Soja saß neben mir, den Kopf an ein Kissen gelehnt, während wir den Klängen von Tschaikowskis Vierter Symphonie lauschten. Unsere Finger waren miteinander verflochten, und ich konnte sehen, dass sie in der Musik und den Erinnerungen, die diese in ihr heraufbeschwor, versunken war. Als ich zu Rachel hinüberschaute, trafen sich unsere Blicke im Kerzenschein, und obwohl sie angesichts unserer kleinen Familie lächelte, lag in ihrem Gesichtsausdruck ein fast schon unerträglicher Kummer.
»Rachel?«, fragte ich sie besorgt. »Geht es Ihnen gut?«
»Ja«, versicherte sie mir, wobei sie den Kopf schüttelte und zu lächeln versuchte. »Mir geht’s gut.«
»So sehen Sie aber nicht aus. Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Tränen ausbrechen.«
»Ach, wirklich?«, fragte sie und riss dabei für einen Moment die Augen auf, als wollte sie gegen irgendeine plötzliche Flut ankämpfen. »Nun, vielleicht bin ich innerlich ein wenig aufgewühlt.«
»Ja, Tschaikowski kann starke Gefühle hervorrufen«, sagte ich und hoffte, dass ich sie mit meiner Fragerei nicht in Verlegenheit gebracht hatte. »Wenn ich diesen Satz höre, füllt sich mein Kopf mit Erinnerungen an alte russische Volkslieder. Und dann werde ich immer ganz wehmütig.«
»Es ist nicht die Musik«, erwiderte sie leise. »Es sind Sie und Ihre Familie.«
»Was ist denn mit uns?«
Sie lachte und schaute weg. »Ich bin nun mal ein sentimentaler Typ. Das ist alles. Sie sind so glücklich, wie Sie so dasitzen, so geborgen, so gut aufgehoben in der Gesellschaft der anderen. Das erinnerte mich an meinen Albert. Ich musste daran denken, wie es heute wäre, hätten sich die Dinge anders entwickelt.« Sie hielt kurz inne, bevor sie entschuldigend die Achseln zuckte. »Er hätte heute Geburtstag gehabt, wissen Sie? Seinen vierzigsten Geburtstag. Wahrscheinlich hätten wir heute ordentlich einen draufgemacht, wäre er noch am Leben.«
»Rachel, das hätten Sie uns sagen müssen«, meinte Soja, wobei sie aufstand und zu ihr hinüberging, um neben ihr Platz zu nehmen. Dann legte sie ihr einen Arm um die Schulter und küsste sie auf die Wange. In Momenten wie diesen, wenn sie eine andere Seele Qualen erleiden sah, kam immer ihr großes Mitgefühl zum Vorschein – das zählte zu den Dingen, die ich so sehr an ihr liebte. »Sie denken bestimmt noch oft an ihn.«
»Ja, jeden Tag«, gab sie zu. »Obwohl er seit über zwanzig Jahren tot ist. Sie haben ihn in Belgien begraben. Habe ich Ihnen das schon erzählt? Das machte die Sache noch viel schlimmer, denn ich konnte nicht zu ihm, kann ihm keine Blumen aufs Grab legen, so wie es jeder andere kann. Es gibt noch immer Tage, wo ich nichts weiter will, als mit einer kleinen Thermosflasche Tee loszuziehen und mich zu ihm zu setzen, aber das kann ich nicht. Nicht hier. Nicht in London.«
»Sind Sie jemals drüben gewesen?«, fragte ich sie. »Von Dover ist das doch nur ein Katzensprung.«
»Ja, bisher achtmal«, sagte sie mit einem Lächeln. »Nächstes Jahr besuche ich ihn vielleicht wieder, wenn ich mir die Überfahrt leisten kann. Er ist in Ypern begraben, auf einem Soldatenfriedhof namens Prowse Point. Reihen um Reihen von sauberen
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