Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
sich jemand befinden musste, der meinen Besuch erwartete.
Ich zögerte, überrascht von der Beklommenheit, die mich mit einem Mal beschlich, und dann klopfte ich schnell an den hölzernen Türrahmen. Ich war hierher eingeladen worden, sagte ich mir. Die Nachricht war an mich adressiert gewesen. Drinnen rührte sich nichts, und so zog ich meinen rechten Handschuh aus, um etwas lauter zu klopfen, doch noch im selben Augenblick ging die Tür auf, und ich stand einer dunkel gekleideten Gestalt gegenüber, die mich einen Moment lang anstarrte, als versuchte sie in der Dunkelheit mein Gesicht zu erkennen, bevor sie ein entzücktes, fratzenhaftes Lächeln aufsetzte.
»Du bist gekommen!«, schrie der Mann, trat einen Schritt auf mich zu und legte mir die Hände auf die Schultern. »Ich wusste, du würdest kommen! Junge Männer sind so leicht zu beeinflussen, findest du nicht auch? Hätte ich dir gesagt, du sollst in die Moika springen, so würdest du jetzt tot auf dem Grund des Flusses liegen.«
Ich ging fast in die Knie unter dem Gewicht seiner Pranken und versuchte mich loszumachen, allerdings ohne Erfolg. Er drückte mit einer solchen Entschlossenheit auf meine Schultern, als wollte er mir seine Stärke demonstrieren und zugleich meine Standhaftigkeit testen. »Vater Grigori«, sagte ich, denn er war es, der mir die Tür geöffnet hatte – der Mönch, der Gottesmann, der Muschik, der die russische Kaiserin zur Hure gemacht hatte. »Ich habe nicht gewusst, dass Ihr hinter dieser Einladung steckt.«
»Wieso? Wärst du vielleicht schneller gekommen, wenn du es gewusst hättest?«, fragte er grinsend. »Oder wärst du dann gar nicht gekommen, Georgi Daniilowitsch? Sag mir, was von beidem wäre es gewesen? Sicher nicht das Letztere. Das würde ich dir nicht abkaufen.«
»Ich bin einfach nur überrascht, das ist alles«, sagte ich wahrheitsgemäß, denn so unbehaglich ich mich in seiner Nähe fühlte und sosehr er mich auch abstieß, es war mir unmöglich, nicht auch gleichzeitig von ihm fasziniert zu sein. Seine Gegenwart hatte für mich stets etwas Berauschendes. Wenn er mir über den Weg lief, geriet ich fast in einen Zustand der Lähmung. Und damit war ich nicht allein. Jeder hasste ihn, aber niemand konnte sich ihm entziehen.
»Du bist gekommen, und das ist alles, was zählt«, sagte er nun und geleitete mich durch die Tür. »Komm rein. Draußen ist es kalt, und wir wollen doch nicht, dass du krank wirst, oder? Ich möchte dich meinen Freunden vorstellen.«
»Aber was soll ich hier?«, fragte ich, als ich ihm durch einen düsteren Flur in den hinteren Bereich des Hauses folgte, wo ich in einiger Entfernung einen ausschließlich von roten Kerzen erhellten Raum erkennen konnte. »Warum habt Ihr mich eingeladen?«
»Weil ich die Gesellschaft interessanter Menschen genieße, Georgi Daniilowitsch«, röhrte er, offenbar verliebt in den Klang seiner eigenen Stimme. »Und dich halte ich für einen sehr interessanten Menschen.«
»Aber wieso denn?«, fragte ich.
»Das weißt du nicht? Das solltest du aber.« Er hielt kurz inne und schaute mich lächelnd an, wobei er zwei Reihen gelber Zähne bleckte. »Ich mag jeden, der etwas zu verbergen hat, und du, mein junger Freund, hast jede Menge Geheimnisse, nicht wahr?«
Ich schaute ihm in seine dunkelblauen Augen und schluckte nervös.
»Ich habe keine Geheimnisse«, sagte ich. »Nicht ein einziges.«
»Natürlich hast du welche. Nur ein Dummkopf hat keine, und ich glaube kaum, dass du einer bist, oder? Aber wie dem auch sei, wir haben alle etwas zu verbergen. Jeder von uns. Diejenigen, die über uns stehen genauso wie die, die uns gleichgestellt sind. Und diejenigen, denen nicht dasselbe Glück beschieden gewesen ist wie uns. Niemand offenbart gern sein wahres Ich – täten wir es, so würden wir übereinander herfallen. Doch du bist anders als die meisten Menschen, da stimme ich dir zu. Denn du scheinst völlig unfähig, deine Geheimnisse für dich zu behalten. Es ist kaum zu fassen, dass ich der Einzige bin, der das bemerkt hat. Aber entschuldige, deshalb habe ich dich nicht hergebeten«, fügte er hinzu, wandte sich von mir ab und setzte seinen Weg durch den Flur fort. »Über diese Dinge können wir uns später noch unterhalten. Komm und lern meine Freunde kennen. Ich bin mir sicher, ihr werdet euch gut verstehen.«
Ich sagte mir, es sei besser, wenn ich auf der Stelle kehrtmachte und das Haus verließ, doch er war bereits in dem Raum mit den roten Kerzen
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