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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Eine Gestalt zwängte sich wortlos an mir vorbei, und ehe ich mich’s versah, stand sie in meinem Zimmer.
    »Anastasia«, sagte ich und steckte meinen Kopf kurz nach draußen, um mich zu vergewissern, dass ihr niemand gefolgt war. »Was machst du hier? Wie spät ist es?«
    »Es ist spät«, sagte sie, mit einer ängstlich klingenden Stimme. »Aber ich musste dich sehen. Mach die Tür zu, Georgi. Niemand darf wissen, dass ich hier bin.«
    Ich schloss auf der Stelle die Tür und schnappte mir die Kerze, die ich auf dem Fensterbrett aufbewahrte. Als der Docht brannte, drehte ich mich zu Anastasia um und bemerkte, dass sie ihr Nachthemd und ihren Morgenmantel anhatte – ein Aufzug, der ihren Körper vollständig verhüllen mochte, aber dennoch eine definitiv erotische Note hatte. Sie starrte mich ebenfalls an, und erst da wurde mir bewusst, dass ich noch unschicklicher gekleidet war als sie, denn ich trug lediglich eine kurze, schlabbrige Unterhose. Ich errötete – was im Kerzenschein, wie ich hoffte, vielleicht nicht zu sehen war – und kramte meine Hose und mein Hemd hervor, während sie sich wegdrehte, damit ich mich ungestört ankleiden konnte.
    »Ich bin jetzt salonfähig«, sagte ich, als ich in Hemd und Hose geschlüpft war. Sie wandte sich mir wieder zu, aber irgendwie schien ihr der Gedankenfaden gerissen zu sein, genauso wie mir. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie in meine Arme zu nehmen, mich wieder meiner Kleidung zu entledigen, und sie ihres Nachtgewands, um mich dann unter der warmen Bettdecke ganz eng an sie zu schmiegen.
    »Georgi …«, hob sie zu sprechen an, doch dann schüttelte sie den Kopf und sah so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
    »Anastasia«, sagte ich, »was ist los mit dir? Was hast du?«
    »Du bist doch heute selber dabei gewesen«, sagte sie. »Du hast es alles miterlebt. Was soll bloß werden? Es gibt so viele schlimme Gerüchte.«
    Ich nahm sie bei der Hand, und dann setzten wir uns nebeneinander auf die Bettkante. Nachdem die Zarin sie und ihre Geschwister einige Stunden zuvor aus dem Salon hinausgeführt hatte, hatte ich Anastasia gesucht, um sie von meiner Unterhaltung mit ihrem Vater zu unterrichten, doch sie hatte den Nachmittag unter der Aufsicht von Monsieur Gilliard verbracht, und mir war keine plausible Erklärung eingefallen, um sie nach Ende des Unterrichts besuchen zu können.
    »Olga sagt, es geht alles den Bach hinunter«, fuhr sie mit verzweifelter Stimme fort. »Tatjana ist fast hysterisch vor Angst. Maria ist nicht mehr dieselbe, seitdem Sergei Stasjewitsch fort ist. Und was Mutter anbelangt …« Sie ließ ein kurzes, zorniges Lachen ertönen. »Sie hassen sie, nicht wahr, Georgi? Alle hassen sie. Das Volk, die Regierung, Trepow, die Duma. Selbst Vater scheint …«
    »Sag das nicht …«, unterbrach ich sie. »Das darfst du nicht sagen. Dein Vater betet die Zarin an.«
    »Aber sie streiten sich immer nur. Er war kaum von der Stawka zurückgekehrt, und … na ja, du hast selber gesehen, was passiert ist. Und morgen bricht er schon wieder dorthin auf. Wird dieser Krieg jemals aufhören, Georgi? Und warum hat sich das Volk gegen uns gewendet?«
    Ich zögerte, ihr zu antworten. Ich liebte sie über alles, doch mir fielen jede Menge Gründe ein, warum die Zarenfamilie in diese Lage geraten war. Natürlich hatte der Zar bei seiner Kriegführung gegen die Deutschen und die Türken viele Fehler gemacht, doch dies war nichts verglichen damit, wie seine Untertanen, die ihm nach eigenem Bekunden so sehr am Herzen lagen, behandelt wurden. Wir vom kaiserlichen Hofstaat reisten von Palast zu Palast, wir bestiegen luxuriöse Züge, wir gingen an Bord von prächtigen Jachten, wir aßen die erlesensten Speisen, wir trugen die feinsten Anzüge und Gewänder. Wir spielten Gesellschaftsspiele, wir hörten uns Musik an, und wir schwatzten darüber, wer wen heiraten würde, welcher Prinz der hübscheste wäre und welche Debütantin die koketteste. Die Damen waren mit Schmuck behängt, den sie nur ein einziges Mal trugen und dann ausrangierten. Die Männer verzierten ihre unnützen Schwerter mit Diamanten und Rubinen, vertilgten Kaviar und betranken sich jeden Abend mit dem teuersten Wodka und Champagner. Unterdessen schmachteten die Menschen außerhalb der Paläste nach Nahrung, nach Brot, nach Arbeit, nach einer wie auch immer gearteten menschenwürdigen Existenz. In der Kälte des russischen Winters konnten sie die Familienmitglieder abzählen, die das

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