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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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an Bord, die Leibgarde war nur mit einem kleinen Kontingent vertreten, es gab keine Hauslehrer, Ärzte, Köche oder Streichquartette, die um die Aufmerksamkeit der Passagiere wetteiferten. Der Zar saß, in sich zusammengesunken, hinter dem Schreibtisch in seinem privaten Salonwagen und beugte sich über eine Reihe von Papieren, die vor ihm ausgebreitet waren, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass er sie las. Wir schrieben den März 1917. Es war zwei Monate her, dass wir St. Petersburg verlassen hatten.
    »Euer Majestät?«, fragte ich, wobei ich mich ihm näherte und ihn besorgt anblickte. »Euer Majestät, geht es Euch gut?«
    Er schaute langsam auf und starrte mich einen Moment lang so an, als würde er mich nicht wiedererkennen. Ein schwaches Lächeln trat auf sein Gesicht, um jedoch gleich wieder zu verschwinden.
    »Ja, mir geht’s gut«, sagte er. »Wie spät ist es?«
    »Kurz vor drei«, sagte ich, nachdem ich einen Blick auf die prächtig verzierte Uhr an der Wand hinter ihm geworfen hatte.
    »Ich dachte, es sei noch Vormittag«, sagte er leise.
    Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber mit fiel keine passende Erwiderung ein. Ich wünschte mir, Dr. Fedorow wäre da gewesen, denn ich fand, der Zar hatte noch nie so krank ausgesehen. Sein Gesicht war grau und beträchtlich gealtert. Die Haut an seiner Stirn war trocken und schuppig geworden, und sein normalerweise gepflegtes und glänzendes Haar war fettig und strähnig. Die Luft im Arbeitszimmer war muffig, und ich bekam eine solche Platzangst, dass ich schnurstracks zu einem der Fenster ging, um es zu öffnen.
    »Was treibst du da?«, fragte er und schaute zu mir herüber.
    »Ich lasse etwas frische Luft herein«, sagte ich. »Vielleicht fühlt Ihr Euch besser, wenn …«
    »Lass es zu!«
    »Aber findet Ihr es hier drin nicht auch stickig?«, fragte ich, als ich Anstalten machte, das Schiebefenster nach oben zu wuchten.
    »Lass es zu!«, schrie er so laut, dass ich mich erschrocken zu ihm umdrehte.
    »Ich bitte um Verzeihung, Euer Majestät«, sagte ich und schluckte nervös.
    »Ist es schon so weit gekommen, dass ich einen Befehl zweimal erteilen muss?«, blaffte er mich an. Er kniff die Augen zusammen und starrte mich mit dem Blick eines Fuchses an, der sich anschickt, ein Kaninchen zu reißen. »Wenn ich sage, du sollst es zu lassen, dann lässt du es auch zu! Verstanden?«
    »Ja, natürlich«, sagte ich und nickte. »Verzeiht mir, Euer Majestät.«
    »Noch bin ich der Zar«, fügte er hinzu.
    »Ihr werdet immer …«
    »Ich hatte vorhin einen Traum, Georgi«, wobei er nun von mir wegschaute und sich an ein unsichtbares Publikum wandte; binnen einer Sekunde hatte sich sein Tonfall geändert, und aus Zorn war Wehmut geworden. »Also im Grunde war es kein Traum, sondern eher eine Erinnerung. Ich habe mich an den Tag erinnert, an dem ich Zar wurde. Mein Vater war noch keine fünfzig, als er starb, wusstest du das? Ich hatte gedacht, bis ich auf den Thron käme, würden noch …« Er zuckte die Achseln und dachte kurz nach. »Na ja, es würden noch viele Jahre vergehen. Es gab manche, die damals sagten, ich sei noch nicht so weit. Aber das stimmte nicht. Ich hatte mich mein Leben lang auf diesen Tag vorbereitet. Es ist schon seltsam, Georgi, wenn man seine Bestimmung nur um den Preis erfüllen kann, dass man den Vater verliert. Und ich war am Boden zerstört, als mein Vater starb. Er war ein Monstrum, natürlich. Aber sein Tod hat mich trotzdem sehr mitgenommen. Du hast deinen Vater nie gekannt, oder?«
    »Doch, Euer Majestät«, erwiderte ich. »Ich habe Euch einmal von ihm erzählt.«
    »Ach ja?«, sagte er mit einer abwinkenden Handbewegung. »Das habe ich vergessen. Nun, mein Vater war ein sehr schwieriger Mensch, daran besteht kein Zweifel. Aber gegen meine Mutter war er der reinste Waisenknabe. Eine Mutter wie meine wünsche ich selbst meinem ärgsten Feind nicht.«
    Ich runzelte die Stirn und schaute hinüber zu der geöffneten Tür, die auf den Gang führte. Dieser war noch immer verwaist, und ich wünschte mir, jemand würde dort auftauchen und mich erlösen. Ich hatte den Zaren noch nie so reden gehört, und es behagte mir nicht, ihn so selbstmitleidig und desillusioniert zu erleben. Es war, als hätte er sich in einen jener verdrießlichen Trunkenbolde verwandelt, die einem des Nachts auf der Straße begegneten, voller Groll gegen diejenigen, die sie für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich machten, verzweifelt auf der Suche nach

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