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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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musste mich sehr zusammenreißen, um sie nicht in die Arme zu schließen, sie auf die Matratze zu pressen und ihren Körper mit meinen Küssen zu bedecken. Sie würde mich lassen – ja, auch das dachte ich. Wenn ich sie fragte, würde sie mich lassen .
    »Anastasia«, flüsterte ich, bevor ich mich erhob und mich von ihr abwandte, denn ich wollte nicht, dass sie meinen liebeshungrigen Gesichtsausdruck wahrnahm. »Es ist ein Glück, dass du heute Nacht zu mir gekommen bist. Ich muss dir nämlich etwas erzählen.«
    »Woanders hätte ich nicht sein wollen«, sagte sie, nun deutlich entspannter. »Wenn wir in Zarskoje Selo sind, werden wir uns zumindest öfter treffen können. Das ist das Gute daran.«
    »Aber ich werde nicht in Zarskoje Selo sein«, sagte ich rasch, denn so unangenehm dies auch sein mochte, ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden. »Ich kann nicht mitkommen. Der Zar hat mich heute meiner Pflichten gegenüber deinem Bruder entbunden. Er möchte, dass ich ihn zur Stawka begleite.«
    Das Schweigen im Raum schien eine Ewigkeit zu dauern. Als ich es nicht mehr aushielt, drehte ich mich zu ihr um und sah ihren Gesichtsausdruck. Ein dünner Strahl blassblauen Mondlichts fiel durch mein Fenster und teilte ihr Gesicht in zwei Hälften.
    »Nein«, sagte sie schließlich mit einem Kopfschütteln. »Nein.«
    »Ich kann nichts dagegen machen«, sagte ich und spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. »Er hat es mir befohlen, und …«
    »Nein!«, schrie sie erneut, und ich blickte zur Tür hinüber, denn ich befürchtete, man könnte sie hören und so von ihrer Anwesenheit in meinem Zimmer erfahren. »Das kann nicht dein Ernst sein! Du kannst mich doch nicht alleinlassen!«
    »Aber du wirst nicht allein sein«, erklärte ich. »Deine Mutter wird da sein. Deine Schwestern, dein Bruder. Monsieur Gilliard. Dr. Fedorow.«
    »Monsieur Gilliard?«, schrie sie entsetzt. »Dr. Fedorow? Was habe ich mit denen zu schaffen? Du bist derjenige, den ich brauche, Georgi. Ich brauche nur dich!«
    »Und ich brauche dich auch«, rief ich und nahm sie in die Arme, um ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken. »Du bist mein Ein und Alles, und das weißt du.«
    »Aber wenn das so ist, wieso verlässt du mich dann?«, schrie sie. »Du musst meinem Vater sagen, dass du nicht mitkommen kannst.«
    »Wie könnte ich mich dem Zaren widersetzen?«, fragte ich. »Er befiehlt. Ich gehorche.«
    »Nein, nein, nein«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Nein, Georgi, bitte …«
    »Anastasia«, sagte ich und schluckte heftig, um so vernünftig wie möglich zu klingen, »was immer während der nächsten Wochen passieren mag, ich werde zu dir zurückkehren. Glaubst du mir das?«
    »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, sagte sie, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Nichts ist mehr so wie früher. Um uns herum geht alles in die Brüche. Manchmal denke ich, die Welt ist verrückt geworden.«
    Draußen vor dem Palast brach mit einem Mal ein ohrenbetäubender Lärm los, der uns zusammenzucken ließ. Erschrocken lief ich ans Fenster und erblickte eine Ansammlung von fünfhundert oder auch tausend Menschen, die mit Transparenten eine Machtübergabe an die Duma forderten, auf die Alexandersäule zumarschierten und hasserfüllte Parolen in Richtung des Winterpalais schrien. Heute Nacht wird es noch nicht passieren , dachte ich mir. Aber bald. Es kann nicht mehr lange dauern .
    »Hör mir zu, Anastasia«, sagte ich, als ich mich wieder zu ihr umdrehte, um sie in die Arme zu nehmen und ihr in die Augen zu schauen. »Ich möchte, dass du mir sagst, du glaubst mir.«
    »Ich kann nicht«, schrie sie. »Ich habe solche Angst!«
    »Was immer geschieht, wo immer du hingehst, wo immer sie dich hinbringen, ich werde dich finden. Glaubst du mir das?« Sie nickte und schluchzte, doch das reichte mir nicht aus. »Glaubst du mir?«, fragte ich sie noch nachdrücklicher.
    »Ja«, schrie sie. »Ja, ich glaube dir.«
    »Und der Teufel soll mich holen, wenn ich dich im Stich lasse«, sagte ich leise.
    Sie löste sich aus meiner Umarmung und schaute mich ein letztes Mal an, bevor sie mir den Rücken kehrte und aus meinem Zimmer verschwand. Schweißgebadet, beklommen und von düsteren Vorahnungen geplagt, blieb ich allein zurück.
    Es sollte fast achtzehn Monate dauern, bis ich sie wiedersah.
    Der kaiserliche Zug, der früher von Leben und Betriebsamkeit erfüllt gewesen war, wirkte verlassen und trostlos. Die kaiserliche Familie war nicht

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