Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
unternehmen.
»Diese Kletten und Blutsauger scheinen dir mehr zu bedeuten als Gott«, schrie sie nur wenige Stunden nach seiner Ankunft, an einem Nachmittag, an dem wir alle bestürzt zur Kenntnis genommen hatten, wie elend Nikolaus aussah. Es schien, als wäre er um zehn oder fünfzehn Jahre gealtert, seit wir ihn im August zum letzten Mal gesehen hatten. Er sah so aus, als wäre er am Ende seiner Kräfte und als würde ein weiteres Drama ausreichen, um ihn auf der Stelle tot umfallen zu lassen.
»Vater Grigori war nicht Gott«, insistierte der Zar, wobei er sich mit den Fingern die Schläfen massierte und sich im Raum umschaute, auf der Suche nach Unterstützung. Seine vier Töchter taten so, als würde der Streit gar nicht stattfinden; ihre Gesellschafterinnen hatten sich, so wie ich, in den hinteren Bereich des Raums zurückgezogen. Alexei beobachtete das Ganze von einem Sessel in der Ecke. Der Junge war fast genauso bleich wie sein Vater, und ich fragte mich, ob er sich tagsüber vielleicht verletzt hatte, ohne jemandem davon erzählt zu haben. Manchmal konnte man nämlich erkennen, wann die inneren Blutungen bei ihm begannen: der panische, verzweifelte Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen, sein krampfhaftes Bemühen, vollkommen still dazusitzen, um das sich ankündigende Trauma abzuwehren – für diejenigen, die ihn gut kannten, war dies ein vertrauter Anblick.
»Er war Gottes Stellvertreter«, schrie die Zarin.
»Ach ja?«, fragte der Zar, wobei er sie wütend anfunkelte und sich bemühte, nicht die Fassung zu verlieren. »Ich habe immer gedacht, ich sei Gottes Stellvertreter in Russland. Ich habe gedacht, ich sei der von Gott Auserwählte, und nicht irgendein Bauer aus Pokrowskoje.«
»Oh, Nicky!«, rief sie frustriert. Dann warf sie sich in einen Sessel und vergrub für einen Moment ihr Gesicht in ihren Händen, bevor sie sich wieder erhob und zu ihm hinüberschritt, um ihn so anzusprechen, als wäre sie nicht seine Frau, sondern seine Mutter, die Kaiserinwitwe Maria Fjodorowna. »Du kannst die Mörder nicht ungestraft davonkommen lassen.«
»Ich will das aber nicht«, sagte er rasch. »Glaubst du etwa, dies sei das, was ich von Russland will? Von meiner eigenen Familie?«
»Man kann diese Männer kaum als deine Familie bezeichnen«, unterbrach sie ihn.
»Wenn ich sie bestrafen würde, wäre das ein Eingeständnis, dass wir Vater Grigoris Einfluss gutgeheißen haben.«
»Er hat unseren Sohn gerettet!«, schrie sie. »Wie viele Male hat er …«
»Er hat nichts dergleichen getan, Sunny«, sagte er. »Himmel, Herrgott, Sakrament! Wie dich dieser Mann bezirzt hat!«
»Hast du ihn deswegen so sehr gehasst?«, fragte sie. »Weil ich an ihn geglaubt habe?«
»Du hast einmal an mich geglaubt«, erwiderte er leise und wandte seinen Blick ab. Dabei war sein Gesicht von Kummer und Gram so zerfurcht, dass ich beinahe vergaß, dass er der Zar war, und glaubte, auf einen Menschen zu blicken, der nicht anders war als ich selbst. In jenem Moment war ich heilfroh, dass niemand von meiner Beteiligung an der Ermordung Rasputins wusste – wäre dies herausgekommen, so hätte sich die Wut des Zaren zweifellos gegen mich gerichtet, und ich wäre zur Beschwichtigung seiner verzweifelten Frau womöglich noch vor Einbruch der Nacht am Galgen gelandet.
»Aber ich glaube noch immer an dich, Nicky«, sagte sie, nun in einem sanfteren Tonfall, und streckte die Arme nach ihm aus. Doch er schien diese Geste misszuverstehen und wich vor seiner Frau zurück, sodass sie plötzlich allein dastand, mitten im Raum, wobei sie ihm ihre Hände noch immer entgegenhielt. »Alles, worum ich dich bitte …«
»Sunny, die Leute haben ihn gehasst, das weißt du doch«, sagte er.
»Natürlich weiß ich das.«
»Und du weißt auch, warum.«
Sie nickte, sagte aber nichts, vielleicht, weil ihr endlich bewusst wurde, dass ihre fünf Kinder die Szene verfolgten, auch wenn sie so taten, als wäre nicht das Geringste geschehen. Ich schaute zu Anastasia hinüber, die auf einem Sofa saß und häkelte. Geschickt zog sie die Nadel durch die Maschen und beobachtete gleichzeitig den Streit ihrer Eltern. Am liebsten wäre ich zu ihr hingelaufen, um sie von diesem schrecklichen Ort wegzubringen, weg aus diesem Palast, der rings um uns zu zerfallen schien. In meinem Kopf tauchten wieder Gedanken an Versailles auf, aber ich verdrängte sie schnell – ich wusste nur zu gut, wie diese Geschichte ausgegangen war.
»Vater Grigori war mein Beichtvater,
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