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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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kommende Frühjahr nicht mehr erleben würden. Sie opferten ihre Söhne auf den Schlachtfeldern, während eine Frau, die in ihren Augen eher eine Deutsche war als eine Russin, über ihr Leben bestimmte. Sie sahen ihre Kaiserin wie eine Hure mit einem Bauern verkehren, den sie verabscheuten. Sie versuchten, ihren Unmut mit Demonstrationen, Aufständen und über eine freie Presse zum Ausdruck zu bringen, wurden aber jedes Mal über den Haufen geschossen. Wie oft hatten sich die Krankenhäuser mit Verwundeten und Sterbenden gefüllt, nachdem die Männer des Zaren den Fortbestand der Autokratie sicherzustellen versucht hatten. Wie oft hatten die Menschen auf den Friedhöfen Abschied nehmen müssen. Dies waren die Dinge, die ich ihr erzählen wollte, die Erklärungen, die ich ihr geben wollte, aber wie konnte ich das, wo sie doch kein anderes Leben kannte als das privilegierte, in das sie hineingeboren war? Und wie hätte ich ihr solche Erklärungen vorsetzen können, wo ich doch selber zwei Jahre unter diesen Leuten verbracht, ihren luxuriösen Lebensstil genossen und mich in der Vorstellung gesonnt hatte, ich wäre einer von ihnen und nicht bloß ein Gefolgsmann, ein unbedeutender Leutnant, der von einem Autokraten einfach so, aus heiterem Himmel, in die hinterste Ecke Russlands abkommandiert werden konnte?
    »Die Dinge werden sich schon wieder einrenken«, flüsterte ich, als ich sie in die Arme nahm, und wiederholte, was der Zar einige Stunden zuvor gesagt hatte, obwohl ich es selber nicht eine Sekunde lang glaubte. »Auf Regen folgt Sonnenschein, wie es so schön heißt, und …«
    »Oh, Georgi, du verstehst mich nicht«, schrie sie und riss sich von mir los. »Vater schickt die ganze Familie nach Zarskoje Selo. Er sagt, er werde für den Rest des Krieges in der Stawka bleiben und notfalls selber an der Front kämpfen.«
    »Dein Vater ist ein ehrenwerter Mann«, sagte ich.
    »Aber diese Gerüchte, Georgi … du weißt, wovon ich rede?«
    Ich zögerte. Ich wusste ganz genau, was sie meinte, doch ich wollte nicht der Erste sein, der die Worte in den Mund nahm, die von jeder vergoldeten Wand des Palastes und in jeder heruntergekommenen Straße von St. Petersburg widerhallten, die Formulierung, die jeder Minister, jedes Mitglied der Duma und jeder Muschik in Russland offenbar hören wollte.
    »Es heißt …«, fuhr sie fort, wobei sie ein wenig schluckte, als sie um Worte rang, »es heißt, dass Vater … also, man erwartet von ihm, dass er … Georgi, es heißt, er müsse auf den Thron verzichten!«
    »Das wird niemals passieren«, sagte ich automatisch, und sie kniff die Augen zusammen und zitterte sichtlich.
    »Du scheinst gar nicht überrascht zu sein«, sagte sie zu mir. »Du hast schon davon gehört?«
    »Ja, habe ich«, räumte ich ein. »Aber ich glaube nicht … also, ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemals passieren wird. Mein Gott, Anastasia! Seit dreihundert Jahren hat immer ein Romanow auf dem russischen Thron gesessen. Kein Sterblicher wird ihn von dort entfernen können. Das ist einfach undenkbar.«
    »Aber was ist, wenn du dich irrst?«, fragte sie. »Wenn Vater plötzlich nicht mehr der Zar ist? Was wird dann aus uns werden?«
    »Aus uns?«, erwiderte ich, wobei ich mich fragte, wen sie mit diesem »uns« meinte. Sie und mich? Ihre Geschwister? Die ganze Romanow-Sippe?
    »Dir kann nichts geschehen«, sagte ich und lächelte sie an, um sie zu beruhigen. »Du bist eine Großfürstin von kaiserlicher Abstammung. Was in aller Welt denkst du …«
    »Das Exil«, flüsterte sie, wobei ihr das Wort wie ein Fluch von der Zunge ging. »Es heißt, man werde uns alle ins Exil schicken. Die ganze Familie – hinausgeworfen aus Russland wie eine Gruppe unerwünschter Einwanderer, abgeschoben nach … weiß der Himmel wohin.«
    »So weit wird es nicht kommen«, sagte ich. »Das wird das russische Volk nie zulassen. Es gibt Verbitterung, ja. Aber es gibt auch Liebe. Und Respekt. Auch hier in diesem Raum. Was immer geschehen mag, mein Liebling, ich werde bei dir sein. Ich werde dich beschützen. Dir wird kein Leid geschehen. Nicht, wenn ich in deiner Nähe bin.«
    Sie lächelte kurz, doch ich konnte erkennen, dass sie nach wie vor beunruhigt war, und sie rückte auf der Bettkante ein wenig von mir weg, als überlegte sie, ob sie nun in ihr eigenes Zimmer zurückkehren sollte, bevor jemand sie bei mir entdeckte. Zu meiner Schande erregte mich ihre Gegenwart in einem so intimen Rahmen über alle Maßen, und ich

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