Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
jemandem, dem sie ihre traurigen Geschichten erzählen konnten.
»Ich habe Alexandra nur eine Woche nach seinem Tod geheiratet«, fuhr er fort, wobei er mit den Fingern rhythmisch auf die Tischplatte klopfte. »Heute kommt mir das wie eine völlig andere Zeit vor. Als wir in Moskau eintrafen, zur Krönungszeremonie, da waren die Straßen voller Menschen, die gekommen waren, nur um uns zu sehen … Menschen aus ganz Russland. Sie haben uns damals geliebt, verstehst du? Das scheint noch gar nicht so lange her zu sein, dabei liegt es schon mehr als zwanzig Jahre zurück. Das ist schwer zu glauben, nicht wahr?«
Ich lächelte und nickte, obwohl es mir in Wahrheit als eine sehr lange Zeit erschien. Ich war schließlich erst achtzehn Jahre alt, und mein Leben lang hatte Nikolaus II . die Geschicke Russlands gelenkt. Zwanzig Jahre – das war länger als ein Leben, zumindest länger als meins.
»Du solltest heute nicht hier sein«, sagte er einen Augenblick später, und dann erhob er sich und schaute mich an. »Es tut mir leid, dass ich dich mitgenommen habe.«
»Soll ich gehen, Euer Hoheit?«, fragte ich.
»Nein, das habe ich nicht gemeint.« Seine Stimme wurde nun lauter, und sie bekam einen wehleidigen Unterton. »Warum werde ich immer falsch verstanden? Ich meinte nur, dass es nicht richtig gewesen ist, dich an diesen Ort hier mitzunehmen. Ich habe das nur getan, weil ich dir vertraue. Verstehst du, Georgi?«
Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was er eigentlich von mir wollte. »Natürlich«, erwiderte ich. »Und ich bin Euch dafür dankbar.«
»Da du bereits einem Romanow das Leben gerettet hast, habe ich geglaubt, du seist vielleicht in der Lage, noch einen weiteren zu retten – ein abergläubischer Gedanke. Aber da habe ich mich geirrt, nicht wahr?«
»Euer Majestät, solange ich hier bin, wird Euch kein Attentäter etwas anhaben können.«
Daraufhin lachte er, und dann schüttelte er den Kopf. »Das habe ich auch nicht gemeint«, sagte er. »Das habe ich ganz und gar nicht gemeint.«
»Aber Ihr habt doch gesagt …«
»Du kannst mich nicht retten, Georgi. Niemand kann das! Ich hätte dich nach Zarskoje Selo schicken sollen. Dort ist es schön, nicht wahr?«
Ich schluckte und hätte ihm am liebsten gesagt, dass er das noch immer tun könne – schließlich war Anastasia dort –, doch ich beherrschte mich und hielt den Mund. Es war nicht die Zeit, um ihn im Stich zu lassen – ich mochte vielleicht noch ein Junge sein, doch ich war erwachsen genug, um dies zu wissen.
»Euer Majestät wirken so niedergeschlagen«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. »Gibt es irgendetwas, das … also, wenn wir vielleicht alle von diesem Ort aufbrechen würden. Der Zug steht hier schon seit zwei Tagen. Wir sind hier am Ende der Welt, Euer Majestät.«
Er lachte und schüttelte den Kopf, bevor er auf einer Polsterbank Platz nahm. »Das Ende der Welt«, wiederholte er. »Da hast du verdammt recht.«
»Ich könnte einen der Soldaten in die nächste Stadt schicken, um einen Arzt zu holen.«
»Was soll ich mit einem Arzt? Ich bin nicht krank.«
»Aber …«
»Georgi«, sagte er, wobei er mit den Fingerspitzen die dunklen Ringe unter seinen Augen massierte. »In ein paar Minuten wird General Ruschki zurückkehren. Du weißt, warum er mich besucht?«
»Nein, Euer Majestät«, erwiderte ich mit einem Kopfschütteln. Der General hatte fast den gesamten Nachmittag beim Zaren verbracht. Ich war bei ihren Gesprächen nicht zugegen gewesen, hatte aber erregte Stimmen durch die Holzvertäfelung vernommen, und dann Schweigen. Nachdem er sich vom Zaren verabschiedet hatte, war der General mit einem Gesichtsausdruck davongeeilt, der Sorge, aber auch Erleichterung verriet. Seitdem hatte ich den Zaren fast eine Stunde lang mit seinen Gedanken allein gelassen, war dann aber zunehmend besorgter geworden und schließlich zu ihm hineingegangen, um zu sehen, ob er etwas benötigte.
»Er bringt einige Papiere mit, die ich unterzeichnen soll«, sagte er. »Und wenn ich diese Papiere unterzeichne, wird es in Russland zu einer großen Veränderung kommen. Womöglich wird etwas passieren, von dem ich mir nie vorgestellt hätte, dass es einmal passieren könnte. Jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten.«
»Ja, Euer Majestät«, erwiderte ich – die übliche, von einem erwartete Reaktion, denn selbst wenn der Zar auf diese Weise redete, galt es als ungehörig, eine Frage an ihn zu richten. Man hatte zu warten, bis er von sich aus
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