Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
vor Schreck hätte ich beinahe laut aufgeschrien. War dies wirklich wahr? Stand der Zar im Begriff, auf den Thron zu verzichten? Natürlich würde er das tun, das erkannte ich schnell. Ich hatte es kommen sehen. Wir alle hatten es kommen sehen. Ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen.
»Wir … und mit ›wir‹ meine ich meine unmittelbare Familie, also meine Frau, meine Kinder und mich selbst«, sagte der Zar, »wir werden ins Exil geschickt, nachdem ich dieses Dokument hier unterzeichnet habe, nicht wahr?«
Der General zögerte nur kurz, doch dann nickte er. »Ja, Majestät«, sagte. »In Russland wird man nicht mehr für Eure Sicherheit garantieren können. Eure Verwandten in Europa, vielleicht …«
»Ja, ja«, sagte der Zar mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Vetter Georgie und all die anderen. Ich weiß, sie werden sich um uns kümmern. Aber wenn Alexei Zar werden soll, wäre er doch gezwungen, in Russland zurückzubleiben? Ohne seine Familie.«
»Ja, das wäre die wahrscheinlichste Lösung.«
Der Zar nickte. »Dann möchte ich, dass noch ein Passus hinzugefügt wird. Ich möchte nicht nur auf meinen Anspruch auf den Thron verzichten, sondern auch auf den meines Sohnes. Die Krone soll stattdessen an meinen Bruder Michail gehen.«
Der General lehnte sich zurück und strich sich kurz über den Schnurrbart. »Majestät«, sagte er, »haltet Ihr das für eine kluge Entscheidung? Hat der Junge nicht eine Chance verdient, auf …«
»Der Junge«, fuhr ihm der Zar über den Mund, »ist, wie Sie eben selber so treffend gesagt haben, nur ein Junge. Er ist erst zwölf Jahre alt. Und mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten. Ich kann nicht zulassen, dass er von mir und meiner Frau getrennt wird. Fügen Sie diesen Passus hinzu, Herr General, und ich werde Ihr Dokument unterschreiben. Und dann lässt man mich hoffentlich eine Zeit lang in Ruhe – wenigstens das sollte mir nach all den Jahren wohl vergönnt sein, oder?«
General Ruschki zögerte nur kurz, bevor er nickte und ein paar zusätzliche Zeilen auf das Pergamentpapier kritzelte, während der Zar zum Fenster hinausschaute. Ich lenkte meinen Blick direkt auf ihn, in der Hoffnung, er würde dies spüren und zu mir herübersehen, damit ich ihm zumindest ein bisschen Beistand leisten konnte, doch er drehte sich nicht um, bis ihm der General etwas zugemurmelt hatte. Er griff sich das Papier, überflog es kurz, und dann setzte er seine Unterschrift darunter.
Danach blieben wir alle sehr still, bis sich der Zar schließlich erhob.
»Ich würde jetzt gern ein wenig allein sein«, sagte er leise.
Der General und ich gingen gemeinsam hinaus und schlossen hinter uns die Tür.
Im kaiserlichen Salonwagen gab sich der letzte Zar seinen Gedanken hin – seinen Erinnerungen, seinem Schmerz und seiner Trauer.
1922
Mein Pariser Arbeitgeber, Monsieur Ferré, war nicht erfreut über mein fortgesetztes Fehlen am Arbeitsplatz, wartete aber, bis der letzte Kunde den Laden verlassen hatte, bevor er mich beiseitenahm, um mir sein Missfallen kundzutun. Er war schon den ganzen Tag über verstimmt gewesen und hatte nicht mit boshaften Bemerkungen über die Erfüllung meines Zeitsolls geknausert, ja er hatte mir sogar meine reguläre Nachmittagspause verweigert, mit der Begründung, er sei mir gegenüber zu nachsichtig gewesen. Am Spätnachmittag versuchte ich, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, aber er fertigte mich ab, mit der Lässigkeit, mit der man eine Fliege totschlägt, die einem um den Kopf herumschwirrt, und meinte lapidar, im Augenblick habe er keine Zeit für mich, weil er die Monatsabrechnung fertigstellen müsse, ich solle später am Abend wieder zu ihm kommen, wenn der Laden geschlossen sei. Da ich mich nicht auf dieses Gespräch freute, wuselte ich zur verabredeten Zeit in der Geschichtsabteilung des Buchladens herum und tat so, als wäre ich zu sehr in meine Arbeit vertieft, um zu hören, wie er meinen Namen rief. Schließlich kam er um die Ecke gerauscht, und als er mich erblickte, wie ich gerade eine Reihe von Bänden zur Geschichte der französischen Militäruniformen in ein Regal einsortierte, da schäumte er fast vor Wut.
»Jatschmenew«, sagte er, »haben Sie nicht gehört, dass ich nach Ihnen gerufen habe?«
»Entschuldigen Sie, Monsieur Ferré«, erwiderte ich, wobei ich mich erhob und mir den Bücherstaub von der Hose klopfte; meine Knie zitterten, als ich mich aufzurichten versuchte, denn die Regale standen unglaublich nah beieinander.
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