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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ist oberflächlich und dumm.«
    »Soja«, erwiderte er, überrascht von ihrem feindseligen Tonfall, aber nicht gewillt, klein beizugeben – ich mochte Leo, aber er gehörte zu den Menschen, die glaubten, sie hätten immer recht, und die mit Überraschung und Mitleid auf diejenigen blickten, die ihre Ansichten nicht teilten –, »die Tatsachen lassen sich nicht bestreiten. Man kann doch überall nachlesen, dass …«
    »Du würdest dich also als einen Bolschewiken sehen?«, fragte sie. »Als einen Revolutionär?«
    »Ich würde gewiss für Lenin Partei ergreifen«, sagte er. »Das ist ein großer Mann. Wenn man bedenkt, wo er hergekommen ist und was er alles erreicht hat …«
    »Er ist ein Mörder«, erwiderte Soja.
    »Ach, und der Zar war keiner?«
    »Leo«, sagte ich schnell, wobei ich mein Glas auf den Tisch vor mir stellte, »das ist unhöflich. Du musst verstehen, wir sind beide unter der Herrschaft des Zaren aufgewachsen. Es gibt viele Menschen, die ihn verehrt haben, die ihn noch immer verehren. Zwei von ihnen befinden sich hier mit dir in diesem Raum. Vielleicht wissen wir mehr über den Zaren als du, und über die Bolschewiken und sogar über Lenin, denn wir haben das miterlebt und nicht nur darüber gelesen. Vielleicht haben wir mehr erlitten, als du dir jemals vorstellen kannst.«
    »Und vielleicht sollten wir uns nicht gerade zu Weihnachten über solche Dinge unterhalten«, sagte Sophie und füllte uns allen die Gläser nach. »Wir wollten uns heute doch amüsieren, oder?«
    Leo zuckte die Achseln und lehnte sich zurück, froh, das Thema fallen lassen zu können, in seiner Arroganz felsenfest davon überzeugt, dass er recht hatte und wir zu dumm waren, um das zu erkennen. Soja sagte an jenem Abend nur noch wenig, und die Feier endete in einer angespannten Atmosphäre. Das Händeschütteln wirkte etwas gezwungener als sonst, die Abschiedsküsse fielen etwas flüchtiger aus.
    »Ist es das, was die Leute denken?«, fragte Soja mich, als wir unseren getrennten Zimmern entgegenstrebten. »Erinnern sie sich so an den Zaren? Stellen sie ihn auf eine Stufe mit Louis Seize?«
    »Ich weiß nicht, was die Leute denken«, sagte ich. »Und es kümmert mich auch nicht. Für mich zählt nur, was wir beide denken, was wir beide wissen.«
    »Aber sie haben die Geschichte verfälscht – sie wissen nichts von unseren Kämpfen. Sie betrachten Russland in so simplen Begriffen: die Privilegierten als Ungeheuer, die Armen als Helden. Das ist so undifferenziert. Sie reden so idealistisch daher, diese Revolutionäre, aber ihre Theorien sind schrecklich naiv. Das ist doch komisch.«
    »Aber Leo ist kein Revolutionär«, sagte ich und versuchte, das Ganze abzutun. »Er ist ein Maler, mehr nicht. Er bildet sich ein, er könne die Welt verändern, aber was macht er denn tagaus, tagein? Er porträtiert fette Touristen und versäuft das Geld in Straßencafés, wo er dann große Reden schwingt. Du solltest ihn nicht so furchtbar ernst nehmen.«
    Es war nicht zu übersehen, dass Soja skeptisch blieb. Auf dem Rest unseres Heimwegs sagte sie kaum ein Wort, und beim Abschied gestattete sie mir lediglich einen züchtigen Kuss auf die Wange, wie eine Schwester ihn ihrem Bruder gewähren würde. Als ich sie durch ihre Haustür verschwinden sah, vermutete ich, dass ihr eine schwere Nacht bevorstand, in der ihr all die Dinge im Kopf herumgeisterten, die sie sagen wollte, all die Wut, die sie empfand. Ich wünschte mir, sie würde mich mit auf ihr Zimmer nehmen, damit sie ihren Kummer mit mir teilen konnte, mehr nicht. Damit wir unsere Wut teilen konnten, denn auch ich hatte mich über Leo geärgert.
    Unser zweites Weihnachten feierten wir dreizehn Tage später, am siebten Januar, und wir revanchierten uns bei Leo und Sophie, indem wir sie in ein Café zum Essen einluden. Es war uns nicht möglich, etwas in unseren jeweiligen Zimmern zu kochen – unsere Vermieterinnen hätten das niemals zugelassen. Außerdem war es mir peinlich, dass Soja und ich nicht zusammenlebten, und es hätte mir nicht behagt, bei ihr zu Gast zu sein oder sie als Gast zu mir einzuladen. Ich fragte mich, ob Leo und Sophie über unser Wohnarrangement sprachen, und ich vermutete, dass sie es taten. In Weinlaune hatte Leo mich einmal tatsächlich als seinen »unschuldigen jungen Freund« bezeichnet, und die darin enthaltene Andeutung von Keuschheit hatte mich verletzt, eine Behauptung, die nicht dazu geeignet war, mein Selbstwertgefühl zu steigern. Bei einer anderen

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