Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
denn sonst hätte sie womöglich gedacht, dass ich mir Dinge einbildete und allmählich den Verstand verlor. »Es ist nichts. Ich bin bloß ein wenig müde, das ist alles.«
Trotzdem konnte ich in jener Nacht kaum schlafen und zerbrach mir den Kopf darüber, was diese Frau wohl von mir wollte. Dreißig oder auch nur zwanzig Jahre früher hätte ihr Erscheinen bei mir paranoide Fantasien darüber verursacht, wer sie wohl geschickt haben mochte, um mich auszuspionieren, was diese Leute vorhaben mochten und ob sie auch nach Soja suchten. Doch inzwischen schrieben wir das Jahr 1970. Jene Zeiten waren längst vorbei. Mir fiel kein vernünftiger Grund für ihr Interesse an mir ein, und ich begann mich zu fragen, ob es sich womöglich doch nicht um die Frau vom Vortag gehandelt hatte oder ob ich sie mir lediglich eingebildet und bei mir der Altersschwachsinn eingesetzt hatte.
Diese Sorge wurde am darauffolgenden Tag entkräftet, als ich am frühen Nachmittag an der Bibliothek ankam und die Dame draußen bei den großen Steinlöwen stehen sah, umhüllt von einem dunklen, schweren Mantel. Ihr Körper spannte sich sichtlich an, als sie mich auf sie zukommen sah.
Ich wiederum runzelte die Stirn und wurde auf der Stelle nervös. Mir war klar, dass sie mich gleich ansprechen würde, doch ich dachte, dass sie mich vielleicht in Frieden ließe, wenn ich einfach an ihr vorüberging und ihr keinerlei Beachtung schenkte. Denn inzwischen wusste ich ganz genau, wer diese Frau war. Es lag auf der Hand. Ich hatte sie noch nie gesehen, bevor sie in die Bibliothek gekommen war – und ich hatte sie auch nicht sehen wollen –, doch nun war sie da und trat mir gegenüber. Das allein war schon eine Anmaßung.
Geh weiter , sagte ich mir. Beachte sie nicht, Georgi . Sag kein Wort .
»Mr Jatschmenew«, sagte sie, als ich mich ihr näherte. Ich hob kurz meine behandschuhte Hand in die Höhe, und als ich die Frau erreicht hatte, bedachte ich sie mit einem angedeuteten Lächeln und einem leichten Kopfnicken. Ich war wirklich alt geworden. Dies war das Gebaren eines älteren Herrn, eines Prinzen von königlichem Geblüt, der in einer vergoldeten Equipage vorüberfuhr. Es erinnerte mich an den Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch, wie er hoch zu Ross durch die Straßen von Kaschin paradierte und dem versammelten Volk seinen Segen entbot, nichts von der Todesgefahr ahnend, in der er schwebte. »Mr Jatschmenew, Verzeihung, aber könnte ich Sie kurz …«
»Ich muss hinein«, sagte ich, wobei ich die Worte hastig herunterrasselte, ohne stehen zu bleiben, darauf bedacht, einem zeitgenössischen Kolek keine Chance zu geben, einen Schuss auf mich abzufeuern. »Ich fürchte, ich habe heute jede Menge zu arbeiten.«
»Es wird nicht lange dauern«, sagte sie, und ich konnte sehen, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, als sie einen Schritt nach vorn tat und mir den Weg versperrte. Sie war ebenfalls nervös, das war ihrem Gesichtsausdruck eindeutig zu entnehmen, und das Zittern ihrer Hände war offenbar nicht allein auf das kalte Wetter zurückzuführen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie belästige, aber ich kann nicht anders. Es muss sein.«
»Nein«, murmelte ich vor mich hin und schüttelte den Kopf, nicht willens, sie anzuschauen. »Nein, bitte nicht …«
»Mr Jatschmenew, wenn Sie mir sagen, ich soll gehen, dann werde ich tun, was sie sagen. Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie in Frieden lassen, aber alles, worum ich Sie bitte, sind ein paar Minuten von Ihrer Zeit. Vielleicht können wir uns ja auf eine Tasse Tee zusammensetzen, mehr nicht. Ich weiß, ich habe nicht das Recht, etwas von Ihnen zu verlangen, aber ich bitte Sie darum. Wenn Sie es über sich bringen könnten …«
Ihre Stimme verlor sich, als sie in Tränen ausbrach, und ich war nun gezwungen, sie anzuschauen. Ich spürte den schneidenden Schmerz in meinem Herzen, jenen grässlichen Schmerz, der mich in den unerwartetsten Momenten des Tages überkam, zu Zeiten, in denen ich überhaupt nicht an das dachte, was geschehen war – Momente, in denen ich diese Frau dermaßen hasste, dass ich am liebsten selbst losgezogen wäre, um sie zu finden, um ihr meine alten, knochigen Hände um den Hals zu legen und ihren Gesichtsausdruck zu beobachten, während ich sie langsam erwürgte.
Doch nun hatte sie mich gefunden. Da stand sie nun und wollte mir einen Tee spendieren.
»Bitte, Mr Jatschmenew«, sagte sie, und ich öffnete den Mund, um ihr zu antworten, doch alles, was ich
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