Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
etwas … Georgi, was ich dir jetzt anvertraue, muss unter uns bleiben – es darf diesen Raum niemals verlassen!«
»Euer Majestät, was immer es sein mag, ich werde es mit ins Grab nehmen.«
Er schluckte und zögerte. Die zwischen uns herrschende Stille hielt länger als eine Minute an, doch ich empfand diesmal keine Verlegenheit; stattdessen hatte ich das Gefühl, Teil eines großen Geheimnisses geworden zu sein, das mir der Herrscher unseres Landes jeden Moment anvertrauen würde. Doch zu meiner Enttäuschung schien er es sich anders überlegt zu haben, denn anstatt sich mir zu offenbaren, schüttelte er einfach nur den Kopf und schaute beiseite, als er meine Schulter losließ und die Tür zum Flur öffnete.
»Vielleicht ist es noch nicht die Zeit dafür«, sagte er. »Lass uns erst einmal sehen, wie du dich bei deiner Aufgabe anstellst. Ich bitte dich nur um äußerste Sorgfalt im Umgang mit meinem Sohn. Auf ihm ruht unsere ganze Hoffnung, verstehst du? Auf ihm ruht die Hoffnung aller kaisertreuen Russen.«
»Ich werde alles tun, damit dem Zarewitsch nichts zustößt«, versicherte ich ihm. »Mein Leben gehört ihm.«
»Dann brauchst du auch nicht mehr zu wissen«, erwiderte er, wobei er erneut kurz lächelte, bevor er die Tür vor meiner Nase schloss und mich wieder in dem kalten und leeren Flur allein ließ, wo ich mich fragte, ob mich dort jemand abholen würde und was mir als Nächstes bevorstehen mochte.
1970
Im ersten Jahr nach meiner Pensionierung machte ich einen großen Bogen um die Bibliothek des British Museum. Ich tat dies nicht, weil ich nicht dort sein wollte, ganz im Gegenteil: Nachdem ich mein gesamtes Erwachsenenleben in der gelehrsamen Atmosphäre dieses friedvollen Gemäuers verbracht hatte, verspürte ich fast nirgendwo sonst eine so große Zufriedenheit. Nein, ich mied es, weil ich nicht einer jener Zeitgenossen werden wollte, die sich nicht damit abfinden können, dass ihr Arbeitsleben zu Ende gegangen ist und dass der gewohnte Trott des Berufsalltags, der unserem Leben Ordnung und Disziplin verleiht, mit einem Mal ersetzt worden ist durch die tiefe Verwirrung oder, wie Charles Lamb es zu nennen beliebte, die »Erlösung« des Ruheständlers.
Ich konnte mich nur zu gut an jenen Freitagabend im Jahre 1959 erinnern, an dem eine kleine Party zu Ehren unseres Bibliotheksleiters, Mr Trevors, stattfand, der das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht hatte und nun seine letzte Arbeitswoche absolvierte. Es wurden Getränke und Häppchen gereicht, es wurden Reden gehalten, und Dutzende von Leuten schauten vorbei, um ihm, für was immer er in Zukunft vorhaben mochte, alles Gute zu wünschen. Wir ließen die üblichen Klischees vom Stapel – dass ihm die Welt jetzt zu Füßen läge und dergleichen – und schämten uns unserer Falschheit kein bisschen. Die Stimmung sollte locker und ausgelassen sein, doch im Laufe des Abends wurde mein ehemaliger Vorgesetzter immer trübsinniger und fragte sich laut, in Gegenwart seiner peinlich berührten Gäste, was er denn nun mit seiner Zeit anfangen solle.
»Ich bin ganz allein auf der Welt«, erzählte er uns mit einem todunglücklichen Lächeln, wobei ihm die Tränen in die Augen schossen und wir alle wegsahen, in der Hoffnung, jemand anders würde ihm Trost spenden. »Was habe ich denn noch ohne meine Arbeit? Ein leeres Haus. Keine Dorothy, und auch keine Mary«, fügte er leise hinzu, sich auf seine Familie beziehend, die ihm den Lebensabend hätte versüßen können, wäre sie ihm nicht durch den Tod entrissen worden. »Meine Arbeit war der einzige Grund, aus dem ich morgens aufgestanden bin.«
Am darauffolgenden Montagmorgen erschien er wie üblich in der Bibliothek, pünktlich auf die Minute, Hemd und Krawatte pieksauber, und bestand darauf, uns bei den einfacheren Tätigkeiten zu assistieren, um die er sich früher nie gekümmert hatte. Keiner von uns wusste, wie wir darauf reagieren sollten – als unser langjähriger Chef strahlte er für uns nach wie vor eine Aura der Autorität aus, und so ließen wir ihn eben gewähren. Doch dann kreuzte er zu unserem Unbehagen auch am nächsten Tag auf, und auch am Tag darauf. Am Donnerstagmorgen nahm ihn einer der Museumsdirektoren beiseite und bat ihn darum, sich zu vergegenwärtigen, dass die anderen Bibliotheksangestellten dort arbeiteten, dass sie für ihre Arbeit bezahlt wurden und deswegen nicht den ganzen Tag über Konversation treiben konnten. Er solle nach Hause gehen und seinen Ruhestand
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