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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Krankenhaus um die Ecke. Er hat mir gesagt, wo er war, und mich gebeten, ihn dort sofort an der Aufnahme zu treffen, wegen der Autoschlüssel, und Sie dann schnellstmöglich von zu Hause abzuholen.«
    »Aber was hat er denn nun gesagt?«, fragte Soja, der allmählich der Geduldsfaden riss. »Ich will es Wort für Wort wissen. Hat er gesagt, dass mit ihr wieder alles in Ordnung kommt?«
    »Er sagte, sie habe einen Unfall gehabt. Ich habe ihn gefragt, ob es ihr gut geht, und daraufhin hat er mich angeblafft. Er sagte: Ja, ja, sie wird es überstehen, aber jetzt fahr los, und hol sofort ihre Eltern her .«
    »Er hat gesagt, sie werde es überstehen?«
    »Ja, ich glaube schon«, sagte Mr Frasier. Ich konnte den panischen Unterton in seiner Stimme vernehmen. Er wollte nichts sagen, was er vielleicht bereuen würde. Er wollte keine falschen Auskünfte geben. Oder Hoffnung verbreiten, wo es keine gab. Oder erklären, wir sollten uns auf alles gefasst machen, obwohl dazu kein Grund bestand. Doch er wusste etwas, das wir nicht wussten, und seine Stimme verriet mir, was es war. Er hatte Ralph gesehen. Er hatte den Ausdruck auf Ralphs Gesicht gesehen, als er die Autoschlüssel geholt hatte.
    Im Krankenhaus eingetroffen, eilten wir unverzüglich zur Aufnahme, wo man uns sofort durch einen kurzen Flur und eine Treppe hinaufdirigierte. Als wir uns, oben angelangt, ratlos umschauten, hörten wir mit einem Mal eine Stimme, die nach uns rief – Großmama! Großpapa! –, und dann das Getrappel kleiner, sich nähernder Füße, die unserem Enkelsohn gehörten, dem damals erst neunjährigen Michael, der uns mit ausgebreiteten Armen und einem bleichen, tränenüberströmten Gesicht entgegenstürmte.
    »Duscha«, sagte Soja und bückte sich, um ihn emporzuheben. Ich ließ meinen Blick den Flur entlangschweifen, bis ich weiter hinten einen Mann mit einem roten Schopf erblickte, der in ein Gespräch mit einem Arzt vertieft war und den ich als meinen Schwiegersohn Ralph identifizierte. Ich beobachtete die beiden. Ich rührte mich nicht. Der Arzt sagte gerade etwas. Seine Miene war ernst. Nach einer Weile streckte er einen Arm aus, legte seine Hand auf Ralphs linke Schulter und schürzte die Lippen. Es gab nichts mehr zu sagen.
    Ralph drehte sich um, als er die Unruhe in seinem Rücken spürte, und unsere Blicke begegneten sich. Er sah jedoch durch mich hindurch, und sein Gesichtsausdruck verriet mir alles, was ich wissen musste, als er mich geraume Zeit verständnislos anstierte, bis er mich schließlich wiedererkannte.
    »Ralph«, sagte Soja und schob Michael nun beiseite, um auf ihren Schwiegersohn zuzulaufen. Dabei fiel ihr die Handtasche herunter. Wann hatte sie sich diese überhaupt gegriffen, fragte ich mich. Der Inhalt der Tasche – eine Haarbürste, ein paar Klammern, ein Notizblock, ein Kugelschreiber, eine Packung Papiertaschentücher, ein Schlüsselbund, eine Geldbörse, eine Fotografie, ich erinnere mich tatsächlich an jeden einzelnen Gegenstand – ergoss sich über den weiß gefliesten Fußboden, so als sei ihr gesamtes Leben mit einen Schlag in die Brüche gegangen. »Ralph«, schrie sie und packte ihn bei den Schultern. »Ralph, wo ist sie? Geht es ihr gut? Los, antworte mir, Ralph! Wo ist sie? Wo ist meine Tochter?«
    Er blickte sie an und schüttelte stumm den Kopf, und in der darauffolgenden Stille drehte Michael sich zu mir um, wobei sein Kinn vor Schreck leicht zitterte angesichts der unvermutet auf ihn einstürmenden Emotionen. Er trug ein Fußballtrikot, die Farben seines Lieblingsvereins, und mir kam der Gedanke, mit ihm demnächst einmal zu einem Heimspiel zu gehen, falls es das Wetter erlaubte. Dieser Junge sollte wissen, dass er geliebt wurde. Dass unsere Familie durch diejenigen geprägt wurde, die wir verloren hatten.
    Bitte, Mr Jatschmenew , hatte sie gesagt. Am Ende willigte ich ein, die Frau, die mich in der Bibliothek beobachtet hatte, zum Russell Square zu begleiten. Betreten nahmen wir auf einer Bank Platz, dicht nebeneinander. Es war ein komisches Gefühl, eine so intime Situation mit einer Frau zu teilen, die nicht meine Ehefrau war. Am liebsten wäre ich aufgestanden und davongelaufen, doch ich hatte ihr zugesagt, dass ich ihr Gehör schenken würde, und wollte mein Wort nicht brechen.
    »Ich möchte meinen Kummer keineswegs mit dem ihrigen vergleichen«, sagte sie, wobei sie ihre Worte mit Bedacht wählte. »Mir ist klar, dass das zwei völlig verschiedene Dinge sind. Aber, Mr Jatschmenew, Sie

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