Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Tscharnetzki, dem meine Zuweisung zu seiner Truppe nach wie vor nicht schmeckte und der keine Gelegenheit ausließ, mir seine Geringschätzung zu demonstrieren, hatte darauf bestanden, dass ich mir binnen eines Monats die wesentlichen Fertigkeiten aneignen sollte, die seine Männer im Laufe von Jahren erwarben, und da ich in so kurzer Zeit so viel zu lernen hatte, war ich abends immer fix und fertig. Ich hatte gerade fast sieben Stunden rittlings auf einem tüchtigen Kavalleriepferd verbracht und gelernt, es mit der linken Hand zu lenken, während ich mit der rechten eine Pistole schwang, um einen potenziellen Attentäter niederzustrecken, und als ich den Palaisplatz überquerte, wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Bett für meine müden Knochen.
Als ich in dem kleinen überdachten Atrium, das Platz und Palast miteinander verband, eine kurze Verschnaufpause machte, fiel mein Blick auf den Garten, der sich vor mir auftat. Die Bäume, die den kurzen, zum Eingang führenden Fußweg säumten, hatten ihre Blätter verloren, und so konnte ich die jüngste Tochter des Zaren sehen. Mir den Rücken zugekehrt, saß sie trotz des in der Luft liegenden Frostes auf der Umrandung des in der Mitte befindlichen Springbrunnens, offenbar ganz in Gedanken versunken und so reglos wie eine der Alabasterstatuen, die die Treppenhäuser und Vestibüle des Palastes schmückten.
Vielleicht spürte sie meine Anwesenheit, denn ihre Schultern senkten sich, sie setzte sich etwas aufrechter hin und wandte dann langsam, ohne ihren Körper zu bewegen, den Kopf leicht nach links, sodass ich sie im Profil sehen konnte. Ihre Wangen waren rund und rosig, ihre Lippen leicht geöffnet, und ihre Hände lösten sich vom Brunnenrand, als würden sie darauf brennen, irgendetwas zu tun, kehrten aber schon im nächsten Moment zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Ich sah, wie ihre makellosen Wimpern in der kalten Abendluft zitterten. Es schien, als könnte ich jede Bewegung ihres Körpers fühlen.
Leise flüsterte ich ihren Namen.
Anastasia .
Und genau in diesem Augenblick drehte sie sich um. Sie konnte mich unmöglich gehört haben, aber sie wusste es irgendwie. Ihr Körper regte sich noch immer nicht, doch ihre Augen suchten nach mir. Sie raffte ihren dunkelblauen Mantel, der ihr ein wenig von den Schultern gerutscht war, zusammen, erhob sich und kam direkt auf mich zu. Nervös verzog ich mich hinter einen der zwölf sechssäuligen Pfeiler, die das Geviert umgaben, und verfolgte, wie sie entschlossenen Schrittes und mit festem Blick näher kam.
Als sie vor mir stand und mich mit einer Mischung aus Verlangen und Unsicherheit anschaute, wusste ich nicht, was ich sagen oder tun sollte. Wir hatten noch nie ein Wort gewechselt, geschweige denn ein Gespräch geführt. Sie fuhr sich über die Lippen und ließ ihre kleine rosige Zunge sehen, setzte sie für einen Moment der frostig kalten Luft aus, bevor sie sie wieder in die warme Höhle ihres Mundes zurückkehren ließ. Wie verlockend mir diese weiche Zunge erschien! Sie beflügelte meine Fantasie und brachte mich auf Gedanken, die mich zugleich mit Scham und Erregung erfüllten.
Ich stand wie angewurzelt da und schluckte nervös, so sehr begehrte ich sie. Eigentlich hätte ich ihr eine tiefe Verbeugung und eine untertänige Begrüßung entbieten und dann meiner Wege gehen müssen, doch ich schaffte es nicht, mich so zu verhalten, wie es das Protokoll verlangte. Stattdessen zog ich mich noch tiefer in die Dunkelheit der Kolonnaden zurück, während ich sie im Blick behielt und sie mir immer näher kam. Mein Mund war trocken, und ich brachte kein Wort hervor. Wir blickten einander stumm in die Augen, bis ein Leibgardist, der auf dem Palaisplatz patrouillierte, auf seinem Kavalleriepferd so unerwartet an Anastasia vorbeipreschte, dass sie zusammenzuckte, kurz aufschrie und vor Angst, unter die Hufe des Pferdes zu geraten, einen Satz nach vorn machte – direkt in meine Arme.
Ich fing sie auf, und graziös wie ein tanzendes Liebespaar schwangen wir herum, sodass ihr Rücken gegen die massive Eichentür gedrückt wurde, die hinter uns aufragte. Nun standen wir gemeinsam im Schatten, an einer Stelle, wo uns niemand beobachten konnte und blickten einander in die Augen. Als sie die ihren zu schließen begann, beugte ich mich vor und drückte meine kalten, aufgesprungenen Lippen auf ihren warmen, weichen Mund. Ich hielt sie in meinen Armen, eine Hand fest an ihren Rücken gepresst, während die andere sich in
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