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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ihrem seidenweichen, kastanienbraunen Haar verlor.
    In diesem Moment konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie sehr ich sie begehrte. Dass wir noch immer kein Wort gewechselt hatten, war unerheblich. Genauso wie die Tatsache, dass sie eine Großfürstin war, eine Tochter von kaiserlichem Geblüt, und ich nur ein Dienstbote, ein Muschik, den man geholt hatte, damit er auf ihren kleinen Bruder aufpasste. Es kümmerte mich nicht, ob uns jemand beobachtete – ich wusste, dass ihr Verlangen so groß war wie meins. Wir küssten uns eine halbe Ewigkeit, und als wir endlich innehielten, um kurz nach Luft zu schnappen, legte sie mir eine Hand auf die Brust und sah mich an, halb erschrocken, halb benommen. Sie wandte sich ab und blickte kopfschüttelnd zu Boden, als verstünde sie noch nicht einmal ansatzweise, wie sie dermaßen tollkühn gewesen sein konnte.
    »Tut mir leid«, sagte ich – meine ersten an sie gerichteten Worte.
    »Wieso?«, fragte sie.
    »Ihr habt recht«, erwiderte ich mit einem Achselzucken. »Es tut mir überhaupt nicht leid!«
    Sie zögerte einen kurzen Moment und lächelte dann. »Mir auch nicht«, sagte sie.
    Wir schauten einander an, und es war mir peinlich, dass ich nicht wusste, was als Nächstes von mir erwartet wurde.
    »Ich muss hinein«, sagte sie. »Wir werden gleich zu Abend essen.«
    »Euer Hoheit«, sagte ich und griff nach ihrer Hand. Ich suchte krampfhaft nach Worten, denn ich wusste nicht, was ich ihr sagen wollte, außer dass sie noch ein wenig länger bei mir bleiben sollte.
    »Bitte«, sagte sie mit einem Kopfschütteln. »Nenn mich Anastasia. Und darf ich dich Georgi nennen?«
    »Ja.«
    »Ich mag diesen Namen.«
    »Er bedeutet Bauer «, erwiderte ich, ein wenig verlegen, aber sie lächelte.
    »Das bist du also?«, gab sie zurück. »Ich meine, das bist du also gewesen?«
    »Nein, aber mein Vater ist einer.«
    »Und du?«, fragte sie ruhig. »Was bist du?«
    Ich dachte darüber nach – diese Frage hatte ich mir vorher noch nie gestellt, doch nun, wo ich mit diesem Mädchen in klirrender Kälte unter den Kolonnaden stand, schien es darauf nur eine einzige Antwort zu geben.
    »Ich bin dein«, antworte ich ihr.
    Ich war noch immer ein Neuling am Hofe des Zaren, als ich den kaiserlichen Zug bestieg, um nach Mogilew zu fahren, wo sich das Hautquartier des russischen Feldheeres befand. Mir gegenüber, völlig aus dem Häuschen angesichts der Vorstellung, die behütete Welt des Palastes gegen die rauere Umgebung eines Militärstützpunktes eintauschen zu können, saß ein elfjähriger Junge: Alexei Nikolajewitsch, der Thronerbe, Zarewitsch und Großfürst des Hauses Romanow.
    In Momenten wie diesen konnte ich noch immer nicht fassen, auf welch dramatische Weise sich mein Leben verändert hatte. Noch einen Monat zuvor war ich ein Muschik wie jeder andere gewesen, hatte in Kaschin Holz gehackt und auf dem harten Fußboden geschlafen, mit knurrendem Magen und zu Tode erschöpft, voller Grausen angesichts des bitterkalten Winters, der in Kürze anbrechen und mir jegliche Freude am Leben verderben würde. Und jetzt trug ich die eng anliegende Uniform der kaiserlichen Leibgarde, und mich erwartete eine komfortable Reise mit der Aussicht auf zwei üppige warme Mahlzeiten pro Tag, und das in der Gesellschaft des von Gott höchstselbst Auserwählten, der nur knapp einen Meter von mir entfernt saß.
    Es war meine erste Fahrt mit dem kaiserlichen Zug, und obwohl ich mich seit meiner Ankunft in St. Petersburg zunehmend an die Verschwendung und die aufwendige Lebenshaltung am Zarenhof gewöhnt hatte, konnte mich der Luxus meiner Umgebung noch immer in Erstaunen versetzen. Es gab alles in allem zehn Waggons, darunter ein Salonwagen, ein Küchenwagen, ein Wagen mit privaten Arbeitszimmern für den Zaren und die Zarin, aber auch Wagen mit Unterbringungsmöglichkeiten für jedes der Kinder sowie für das Personal und das Gepäck. Ein zweiter, kürzerer Zug folgte im zeitlichen Abstand von einer Stunde und beförderte einen ganzen Hofstaat von Ratgebern und Dienstboten. Der vorausfahrende Zug war natürlich der Zarenfamilie und deren Begleitung vorbehalten, zu der nicht nur zwei Ärzte und drei Köche gehörten, sondern auch eine kleine Armee von Leibwächtern sowie die jeweiligen Berater, denen der Zar die Ehre einer persönlichen Einladung hatte zuteilwerden lassen. Da ich dem Zarewitsch seit nunmehr drei Wochen als Beschützer und Vertrauter zur Seite stand, verlangte das Protokoll meine

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