Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
anders als ihr Mann: Für sie war ein Raum leer, wenn sich darin nur Bedienstete oder Mitglieder der Leibgarde befanden, und war dies der Fall, so führte sie sich so auf, als wäre sie allein in diesem Raum.
»Sprich sie niemals an!«, riet mir eines Abends Sergei Stasjewitsch Poliakow, ein Leibgardist, mit dem ich mich angefreundet hatte, weil unsere Quartiere direkt nebeneinander lagen. Unsere Betten wurden nur von einer dünnen Wand getrennt, durch die ich ihn nachts schnarchen hören konnte. Er war achtzehn und somit zwei Jahre älter als ich, aber dennoch einer der Jüngsten in Graf Tscharnetzkis Eliteregiment. Ich war geschmeichelt, dass er mich zum Freund gewählt hatte, denn er wirkte viel weltmännischer und weniger befangen als ich. »Sie würde es als eine ungeheuerliche Respektlosigkeit empfinden, solltest du ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen versuchen.«
»Das würde ich nie tun«, versicherte ich ihm. »Aber manchmal treffen sich unsere Blicke, hier im Palast oder anderswo, und dann weiß ich nicht, ob ich sie grüßen oder ob ich mich vor ihr verbeugen soll.«
»Sie mag dir ins Auge fallen, Georgi«, sagte er lachend zu mir, »aber du wirst ihr garantiert nicht ins Auge fallen. Durch unsereinen sieht diese Frau hindurch. Für sie sind wir bloß Geister, jeder von uns.«
»Ich bin kein Geist«, beharrte ich, überrascht darüber, dass es mir gegen den Strich ging, so tituliert zu werden. »Ich bin ein Mensch.«
»Ja, ja«, sagte er, drückte seine halb aufgerauchte Zigarette am Stiefelabsatz aus, um sie für später in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen, und erhob sich, um sich in sein Quartier zu begeben. »Du darfst nicht vergessen, wie sie aufgewachsen ist. Ihre Großmutter war Queen Victoria, die Königin von England. Bei so einer Abstammung machst du dich nicht mit dem Plebs gemein. Mit Dienstboten spricht sie nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«
Ich hielt dies jedoch für völlig vernünftig. In meiner Ahnentafel gab es keine Könige oder Fürsten – ich kannte noch nicht einmal die Namen aller meiner Großeltern. Aus welchem Grund sollte sich die Kaiserin von Russland also dazu herablassen, mit mir ein Gespräch zu führen? Tatsächlich war meine Ehrfurcht vor der kaiserlichen Familie so groß, dass ich nie gedacht hätte, jemand von ihnen würde mich überhaupt wahrnehmen, doch wenn ich berücksichtigte, mit welchem Wohlwollen mir ihr Mann, ihr Sohn und ihre Töchter begegneten, so fragte ich mich zuweilen, ob ich sie irgendwie verletzt oder gekränkt haben mochte.
Ich hatte sie bereits an meinem ersten Abend im Winterpalais gesehen, obgleich ich damals noch nicht wusste, wer die Dame war, die mit dem Rücken zu mir auf dem Betpult gekniet hatte. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie fieberhaft und mit welch großer Hingabe sie gebetet hatte. Und ich hatte auch diese grässliche Erscheinung nicht vergessen, diesen finsteren Priester mit seinem bösartigen Grinsen, der da plötzlich vor mir gestanden hatte. Sein Bild hatte mich die ganze Zeit über verfolgt, obwohl er mir seit jenem Tag nicht wieder über den Weg gelaufen war.
Die Kehrseite ihrer Weigerung, von mir Notiz zu nehmen, bestand darin, dass sie nichts dabei fand, sich in meiner Gegenwart alles andere als hoheitsvoll aufzuführen, was mich manchmal in Verlegenheit brachte. So zum Beispiel zwei Tage bevor ich den kaiserlichen Zug bestieg, als sie erfuhr, dass der Zar Alexei nach Mogilew ins Heereshauptquartier mitzunehmen gedachte.
»Nicky«, schrie sie, als sie in einen der Salons im obersten Stock des Palastes gestürmt kam, wo der Zar gedankenverloren über irgendwelchen Unterlagen brütete und ich in einer abgedunkelten Ecke des Raums saß. Mein Schützling Alexei kroch auf dem Fußboden herum und beschäftigte sich mit seiner Spielzeugeisenbahn, die er dort aufgebaut hatte. Die Lokomotiven und Waggons waren natürlich allesamt vergoldet, und die Gleise bestanden aus feinstem Stahl. Vater und Sohn schenkten mir keinerlei Beachtung, wechselten aber hin und wieder ein Wort. Obgleich er sich ganz und gar auf seine Arbeit konzentrierte, wirkte der Zar, wie ich bemerkt hatte, wesentlich entspannter, wenn er Alexei in seiner Nähe wusste, und er schaute auf und wurde nervös, sobald dieser aus irgendeinem Grund den Raum verließ.
»Nicky, sag mir bitte, dass ich mich verhört habe!«
»Verhört, mein Schatz?«, fragte er, wobei er mit so müden Augen von seinen Papieren aufschaute, dass ich mich
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