Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
einen Moment lang fragte, ob er in der Zwischenzeit vielleicht eingenickt war.
»Anna Wyrubowa hat mir erzählt, dass du am Donnerstag nach Mogilew fährst, um der Armee einen Besuch abzustatten.«
»Das ist richtig, Sunny«, erwiderte er, wobei er sich des Kosenamens bediente, mit dem er sie für gewöhnlich ansprach und der so gar nicht zu ihrem oftmals düsteren und launischen Gebaren passen wollte. Ich fragte mich, ob sie früher, zu der Zeit, als er ihr den Hof gemacht hatte, vielleicht ein anderes Verhalten an den Tag gelegt hatte. »Ich habe Vetter Nikolaus letzte Woche geschrieben und ihm mitgeteilt, dass ich dort ein paar Tage verbringen werde, um die Truppen aufzumuntern.«
»Ja, ja«, sagte sie unwirsch. »Aber Alexei wirst du doch wohl nicht mitnehmen, oder? Ich habe gehört …«
»Doch, das hatte ich vor«, sagte er ruhig, wobei er von ihr wegschaute, so als wisse er nur zu gut, dass sie gleich aneinandergeraten würden.
»Das kann ich nicht zulassen, Nicky!«, schrie sie.
»Nicht zulassen?«, fragte er, wobei sein sanfter Tonfall einen belustigten Beiklang bekam. »Und warum nicht?«
»Das weißt du ganz genau. Es ist dort nicht sicher.«
»Inzwischen ist es nirgends mehr sicher, Sunny. Oder hast du das noch nicht bemerkt? Spürst du nicht das Gewitter, das sich rings um uns zusammenbraut?« Er zögerte kurz, und die Spitzen seines Schnurrbarts hoben sich ein wenig, als er zu lächeln versuchte. » Ich spüre es.«
Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch seine letzte Bemerkung schien sie für einen Moment zu verwirren. Sie wandte sich von ihm ab, um einen Blick auf ihren Sohn zu werfen, der einige Meter entfernt auf dem Fußboden hockte und nun von seinen Eisenbahnzügen aufschaute, um die Szene zu beobachten, die sich vor seinen Augen abspielte. Sie lächelte ihm kurz zu, ein besorgtes Lächeln, und rang nervös die Hände, bevor sie sich wieder ihrem Gatten zuwandte.
»Nein, Nicky«, sagte sie. »Nein, ich bestehe darauf, dass er hier bei mir bleibt. Schon die Fahrt wird für ihn unerträglich sein. Und wer weiß, welche Zustände euch dort erwarten? Was ist mit den Gefahren, die euch bei der Stawka drohen? Was ist, wenn euch dort ein deutsches Bombenflugzeug aufspürt?«
»Wir sehen diesen Gefahren doch tagtäglich ins Auge, Sunny«, sagte er mit erschöpftem Tonfall. »Und wir sind nirgendwo leichter aufzuspüren als hier in St. Petersburg.«
» Du siehst diesen Gefahren ins Auge, ja. Und ich sehe ihnen ins Auge. Aber Alexei nicht. Unser Sohn nicht!«
Der Zar schloss kurz die Augen, bevor er sich erhob und zum Fenster ging, um auf die Newa hinabzublicken.
»Er muss mitkommen«, sagte er schließlich, wobei er sich umdrehte und seiner Frau direkt ins Gesicht schaute. »Ich habe Vetter Nikolaus bereits mitgeteilt, dass er mich begleiten wird. Er hat den Truppen sicher schon ein entsprechendes Bulletin zukommen lassen.«
»Dann sag ihm, du hast es dir anders überlegt.«
»Das geht nicht, Sunny. Alexeis Anwesenheit in Mogilew wird die Truppen ungemein beflügeln. Du weißt, wie sehr ihr Kampfgeist in letzter Zeit gelitten hat, wie schlecht es um ihre Moral bestellt ist. Du liest doch auch diese Depeschen. Ich habe dich damit in deinem Salon gesehen. Wir müssen alles Menschenmögliche versuchen, um den Männern Mut zu …«
»Und du glaubst, ein elfjähriger Junge kann das?«, unterbrach sie ihn mit einem bitteren Lachen.
»Er ist nicht nur ein elfjähriger Junge, wie du weißt. Er ist der Zarewitsch, der Erbe des russischen Thrones. Er ist ein Symbol …«
»Oh, wie ich es hasse, wenn du so von ihm sprichst«, fuhr sie ihn an und lief dann wütend im Raum auf und ab, wobei sie an mir vorbeiging, als wäre ich nichts weiter als ein Stück Tapete oder ein dekoratives Möbelstück. »Er ist kein Symbol. Jedenfalls nicht für mich. Er ist mein Sohn.«
»Er ist mehr als das, Sunny, und du weißt das.«
»Ich will aber mitfahren, Mutter«, sagte eine leise Stimme vom Teppich. Es war die von Alexei, und er schaute die Zarin mit einem aufrichtigen und bittenden Ausdruck an. Mit ihren Augen, wie ich bemerkte. Sie waren sich sehr ähnlich, die beiden.
»Ich weiß, dass du das willst, mein Schatz«, sagte sie, wobei sie sich kurz zu ihm hinabbeugte und ihn auf die Wange küsste. »Aber dort bist du nicht sicher.«
»Ich werde aufpassen«, sagte er. »Das verspreche ich dir.«
»Schön und gut, so ein Versprechen«, erwiderte sie, »aber was ist, wenn du über etwas stolperst?
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