Das Haus
versetzte, in dem es bis heute ist. Es passiert in dem Augenblick, da ich an der Hand meiner Mutter im Vorbau des Kindergartes stehe und gerade übergeben werde. Ich halte die Hand meiner Mutter fest, weil ich von diesem Ort wieder weg möchte, und meine Mutter macht meine Hand von der ihren los, um mich dort allein zurückzulassen. Es setzt sofort eineBetäubung ein. Und dann sehe ich sie, wie sie von mir weggeht, den Gang zurückläuft und schließlich hinter der Mauer verschwindet. Ich war zum ersten Mal allein. Oder anders gesagt: Ich war zum ersten Mal unter Menschen. Unter Menschen und allein.
In den nächsten Stunden habe ich entweder die ganze Zeit geheult, oder ich saß apathisch herum und staunte die anderen bei ihrem Tun an. Ich habe vor allem noch den Eindruck von Gerüchen und sehr bunter Kleidung. Sie waren schnell, und sie handelten nach Gesetzen, die mir völlig verschlossen blieben. Diese Kinder waren eine Gruppe, die erste meines Lebens. Diese Gruppe funktionierte nach Regeln, die ich nicht kannte und eigentlich bis heute nicht kenne. Vor meinen Augen verwandelten sich die Kinder in Handlungsautomaten. Sie schlugen sich, sie bissen sich, sie kommunizierten miteinander, sie taten irgend etwas miteinander, und vor allem: Sie konnten es. Sie konnten es, indem sie es einfach taten. Zum Beispiel schlug der eine dem anderen ins Gesicht, dann heulte der Geschlagene, und drei Minuten später machten sie wieder etwas zusammen, sagen wir, mit Bauklötzen. Überall fühlte ich etwas Unechtes im Raum, im Bezug der Kinder zu den anderen Kindern ebenso wie in ihrem Bezug zur Aufsichtsperson, sie folgten der unechten Aufsichtsperson trotz deren Unechtheit, und ihr Folgen war auch unecht. Die Kinder schienen an all dasbereits völlig gewöhnt, oder es kam sogar durch sie selbst. Ich habe auch zwischen der Kindergärtnerin und den Kindern keinen Unterschied gesehen, der einzige Unterschied, den ich gesehen habe, war der zwischen mir und allen anderen im Raum. Ob die anderen Kinder auf mich einschlugen, weiß ich nicht mehr. Ich habe eine vage Erinnerung daran, daß ich den anderen Kindern vorgestellt wurde, und es war da dieses Gefühl, daß die Kindergärtnerin, indem sie von dem Andreas sprach, der jetzt zu uns dazugehört und bei uns mitspielt , gar nicht von mir sprach, sondern von etwas anderem, das mit mir nichts zu hatte, aber für alle da draußen deckungsgleich mit mir war und nun in ihrer Verfügungsgewalt stand, wodurch ich in Panik geriet. Als würde ich in eine fremde Haut und ein fremdes Wesen hineingesteckt, das mir seine Bewegungen aufzwingt und mich immer kleiner werden läßt. Es war wie bei einem Schmerz, der einen überfordert und den Verstand verlieren läßt. Man will nur erlöst werden und hat keinen anderen Gedanken und besteht nur noch aus diesem einen Gedanken, man klagt und zittert und bibbert und ist insgesamt äußerst bemitleidenswert.
Im Kindergarten fand mich natürlich niemand bemitleidenswert. Mit der Zeit würde das alles besser werden, und der Andreas würde sich schon eingewöhnen, es fällt ja vielen Kindern nicht leicht amAnfang et cetera . Hätte man mir mit großer Wucht einen Knüppel ins Gesicht geschlagen, wäre ich wenigstens bewußtlos geworden. Schlimmer hätte das nicht sein können. Ob man mich an diesem Tag vorzeitig aus dem Kindergarten wieder herausholte, weiß ich nicht, vielleicht ließen sie mich die ganzen langen Stunden dort. Wie sie mich abholten, empfingen, begrüßten, das weiß ich auch nicht mehr. Meine Mutter erzählte später oft, ich hätte längere Zeit kein Wort gesprochen und erst eine Weile später an diesem Tag wieder etwas gesagt, und zwar, daß ich unter das nächste Auto laufen würde, wenn sie mich noch einmal dorthin brächten. In der Tat brachten sie mich nicht mehr hin. Vielleicht hatten meine Eltern doch irgendwie einsehen können, daß ich unter einem Schock stand.
U nsere Küche war ein großer, leerer, heller Raum mit vielen Bäumen vor den Fenstern, die einigermaßen entfernt standen. Tagsüber herrschte angenehmes Licht in diesem Raum, da es von draußen hereinfiel, aber abends war das Licht grell und künstlich, und die Rolläden waren verschlossen. Dann saßen alle um einen Tisch, und über dem Tisch hing ein Kreuz mit einer dünnen Figur aus Holz daran, das Jesuskreuz. Unser Jesus blickte immer seitlich nach links zur Wand (heute hängt er in meinem Eßzimmer in der Uhlandstraße und schaut von seinem Kreuz zum Fenster
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