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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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und es war nicht möglich, aufzustehen. Ich mußte sitzen und die Worte dort vorn hören, und ich wurde wie immer von einer so quälenden, nervösen Unruhe befallen, als sei ich in einer Zelle gefangen und könne mich nicht bewegen, weil die Wände um mich herum so eng waren und eigentlich nicht viel weiter entfernt von mir als meine eigene Haut. Es war die Stunde des Herrn, und es war die Zeit meiner kompletten Hilflosigkeit, überall um mich herum Menschen, in sich ruhende und ihrer selbst gewisse und mit der Situation anscheinend völlig einverstandene Menschen, die zu alldem ohne weiteres fähig waren und die in ihrem mysteriösen, dumpfen Singsang Worte vor sich hin sprachen. Vorne stand jemand, der Woche für Woche, kam mir vor, dasselbe sagte, der immer wieder das gleiche wiederholte, der die Arme hob, sinken ließ, die Stimme hob, sinken ließ, der an ein Pult trat, dann wieder zurücktrat, sich setzte, und die Gemeinde folgte auf eine mir nicht weiter begreifliche Weise seinem Aufstehen und Niedersetzen. Alle um mich herum, die Familie und alle anderen, standen auf, setzten sich wieder, falteten die Hände, nahmen sie wieder auseinander und verfielen wieder in ihren Singsang. Alle machten mit, und jeder kannte das Programm und den Ablauf.Es gab keine Ausnahme. Eigentlich war es wie in einer Armee beim Appell. Es war, als hätten alle, eigentlich die ganze Welt (überall, in jeder Stadt und in jedem Dorf um uns herum, waren gerade alle im Gottesdienst, glaubte ich), etwas verstanden oder als hätten sie eine ganz bestimmte Fähigkeit, nur ich nicht. Es war die Maximierung dessen, was ich beim allabendlichen Beten vor dem Essen am Küchentisch nicht verstand und nicht konnte. Vor allem verstand ich nicht, wieso es immer wieder geschehen mußte, immer wieder auf die gleiche Weise. Der Pfarrer sprach Sätze in einem völlig anderen Ton als alle anderen Sätze, die ich die Woche über hörte, ausgenommen die Gebete beim Abend- und dem sonntäglichen Mittagessen. Mein Bruder sprach seine Sätze völlig anders, die Nähfrau Däschinger ebenfalls, auch meine Mutter sprach mit den Firmenangestellten und auch mit Frau Rauch vollkommen anders, und mein Vater mit der Gartenhilfe ebenfalls. Der Pfarrer aber hob seine Stimme und sprach ins Leere. Nichts antwortete. Am seltsamsten war es, wenn er zu uns Kindern sprach. Manchmal wurden Kinder nach vorn geholt, die sprach er dann, wie sie vor ihm saßen und weinten oder nicht weinten, direkt an, aber eigentlich ohne sie anzusprechen, er sprach eigentlich immer nur durch sie hindurch, worauf die, die weinten und aus Angst schrien, nur noch mehr weinten und schrien, und die, die noch nichtgeweint hatten, zu weinen anfingen, bis sie wieder entlassen wurden, dann waren sie gesegnet. Dort in der Kirche saß ich als Kind Woche für Woche. Irgendwann standen alle auf, auch der Vater und die Mutter, dann gingen sie zur Kommunion, und irgendwann kamen sie zurück mit einem anderen Gesichtsausdruck, der doch genau derselbe war wie vorher, das war verursacht durch die Kommunion, dann sprach der Pfarrer noch eine quälende Weile weiter, anschließend durften wir die Kirche endlich verlassen, aber nur, um uns vor der Kirche erneut zu versammeln. Dort traf man sich, stand zusammen, mußte sich begrüßen, und sie sprachen über mich, und ich stand dabei, und sie schauten mich an, und ich konnte nichts sagen … sie schauten mich an … ich merkte jedesmal die Befremdung meiner Eltern, sie begriffen nicht, wieso es mir so schwerfiel, mit den anderen Menschen zu sprechen … und ich konnte mich wie immer dagegen nicht wehren und war wieder wie betäubt. Vielleicht war ich die Woche über nie unruhiger als auf dem Platz vor der Kirche Sonntag vormittags, aber niemand schien das zu bemerken. Meinen Eltern fiel lediglich auf, daß ich verschämt war und nichts Sinnvolles hervorbrachte, wenn jemand mit mir zu reden versuchte. Selbst die einfachsten Fragen, etwa, wie alt ich sei und wann ich in die Schule kommen würde, führten bei mir zu den bekannten Ausfallerscheinungen. Besondersmeinem Vater war das oft peinlich, er hätte lieber einen lebensfrohen, munteren, freundlichen und kontaktfreudig gestimmten Sohn gehabt und nicht ein so ängstliches Stück Mensch. Endlich, nach einer Ewigkeit, stiegen alle in ihre Automobile und fuhren davon, einer nach dem anderen. Eben noch hatte es keinen einzigen freien Parkplatz mehr um die Kirche herum gegeben (wir selbst hatten vor Gottesdienstbeginn

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