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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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anderen wurden mir immer peinlich in dieser Situation. Einerseits fühlte ich mich, als hätte ich eine Behinderung, die das Beten, und sei es bloß aus Scham, verhindert, andererseits schämte ich mich aber auch für die anderen, weil siebeteten und das offenbar natürlich fanden, obgleich es mir völlig unnatürlich und geradezu monströs vorkam. Als gingen sie für diesen einen Moment ihrer Person verlustig. Schon bevor ich zum Abendessen hinabging, fühlte ich die Angst herankommen. Gleich mußt du wieder so tun, als würdest du beten, und haben sie nicht längst schon erkannt, daß du sie allesamt anlügst? Und daß du somit auch vor dem lieben Gott lügst? Daß du schwindelst und so nicht in den Himmel kommen wirst, sondern in die Hölle? Wie lange soll dieses Spiel noch weitergehen? Ich hätte das mir gegenüber natürlich nicht so klar ausdrücken können, aber ich fühlte doch, wie ich mich immer tiefer in meine eigene Schuld verstrickte und mich von allen anderen entfremdete, bei jedem Abendessen. Sie machten es richtig und lebten richtig und verstrickten sich nicht in Scham und Schwindelei. Mein Leben war dagegen eigentlich schon verwirkt und verloren, und die Strafe für meine Lüge (das war mein Grundgefühl) hatte mich bereits eingeholt: sie bestand in meiner völligen Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit. Ich konnte nur noch als Todsünder weiterleben. Gott sei Dank währte dieser Zustand meistens nur für die Dauer des Abendbrots.
    Nach dem Gebet wurde gegessen. All die Speisen auf dem Tisch, neben dem ausgepackten Käse auch die auf einen Teller gelegte Cervelatwurst oder dieBierwurst, sahen in dem künstlichen Lichtschein aus, als seien sie ebenfalls künstlich und als habe man sie eigens ausgesucht, weil sie in ihrer Künstlichkeit am besten zu dem künstlichen Licht paßten. Angeleuchtet wie von einem Theaterscheinwerfer und dadurch besonders hervorgehoben. In den weißen Tassen (stapelbar) stand Abend für Abend roter Tee. Wieso nicht zu jeder anderen Zeit des Tages essen, wieso jetzt, wo in diesem fürchterlichen Licht diese Runde versammelt war, die sich ansonsten nie in dieser Zusammensetzung versammelte, und auch noch die Fenster verriegelt und die Rolläden geschlossen waren, so daß es kein Draußen mehr gab, sondern nur noch diese eine Welt in diesem Küchenraum?
    Meine Schwester fiel beim Abendessen öfter dadurch auf, daß sie plötzlich laut aufschrie oder zu heulen begann oder ihr Käsebrot gegen die Wand warf. Hatte sie das Brot geworfen, schrie sie noch lauter, denn nun hatte sie ja kein Brot mehr, also mußte ihr ein neues Brot geschmiert werden und eine neue Scheibe Käse darauf gelegt werden. Entweder aß die Schwester am Tisch anschließend das Brot mit dem üblichen Appetit, oder sie warf es wieder gegen die Wand oder einen der Umsitzenden. Mein großer Bruder, fünf Jahre älter als ich, saß meist still und aß in sich hinein und schien die Vorgänge am Tisch bloß teilnahmslos zu betrachten.Mein Bruder war offenbar nie von dem Wunsch beseelt, man möge das Licht ausmachen, diese scheußlichen Speisen wegschaffen und einen überhaupt lieber ganz allein lassen. Abendessen, die schlimmste Stunde des Tages, wenn sich die Familie versammelte und das gemeinsame Abendbrot einnahm, als sei es das Normalste von der Welt.
    Schwierig waren auch die Sonntage. Nicht selten hatten wir Verwandtenbesuch aus Frankfurt, überdies bekamen die abendlichen Versammlungen am Küchentisch ein Geschwister: das waren die Versammlungen im Eßzimmer. Am Sonntag wurde das Mittagessen im Eßzimmer eingenommen, es sollte auf eine besonders festliche Weise mit allen Familienmitgliedern gespeist werden. Am Sonntag sollte eine besonders feierliche Speise zubereitet und der Tisch besonders festlich gedeckt und die Familie auf eine besonders zeremonielle Weise um diesen Tisch versammelt werden. An diesem Tag waren wertvollere Teller als wochentags gedeckt, feinere Gläser, besseres Besteck lag da, es stand eine Weinflasche auf dem Tisch (beim Abendessen stand höchstens eine Bierflasche auf dem Küchentisch), es gab Stoffservietten, und es kamen auch keine Käsescheiben auf den Tisch. An diesen Sonntagen mußte ich lange dort sitzen … sitzen inmitten der Familie … sollte mit meinen Cousins sprechen, mich mit ihnen unterhalten, irgendwie mit ihnen kommunizieren …
    Zwei Stunden vorher waren wir in der Kirche gewesen. Schon dort hatte ich sitzen müssen, in einer Bank. Alle saßen sonntags in diesen Bänken,

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