Das Hausbuch der Legenden
Der Götterkönig tadelte ihn deswegen. Er konnte nicht zugeben, daß die Ashvins, die sich immer unter Menschen bewegten, des Göttertrankes würdig seien. Aber Cyavana hielt sich nicht an dieses Gebot. Da wollte der erzürnte Indra den Donnerkeil nach ihm werfen. Der Heilige aber lähmte mit der in tausendjährigem Büßerdasein erworbenen magischen Kraft den Arm des Gottes; ja, er versuchte, den Gott zu demütigen und erschuf ein fürchterliches Ungeheuer – Mada, den Rausch.
Sein Unterkiefer lag auf der Erde, der Oberkiefer reichte bis zum Himmel. Mada ging auf Indra los und wollte ihn
verschlingen. Zitternd vor Angst bat der Götterfürst den Heiligen um Gnade. Cyavana war nun befriedigt. Er ließ Mada wieder verschwinden und teilte ihn auf. Seitdem wirkt er durch den Wein, die Weiber, die Würfel und die Jagd.
Das verschwundene Lendentuch
EINES TAGES kam Shiva, der oberste Gott, in der Verkleidung eines brahmanischen Vedaschülers in das Rasthaus des Amarnitinayanar, um mit ihm zu feiern. Er trug einen Stab in der Hand, an dem zwei Lendentücher und ein Beutel für die heilige Asche hingen. Der Hausherr ging ihm hocherfreut entgegen und begrüßte ihn mit den Worten: »O Herr, welch gutes Werk habe ich in einer meiner früheren Geburten getan, daß du heute zu mir kommst?« Der Brahmanenschüler
antwortete, er habe gehört, daß Amarnitinayanar die
Shivaanbeter speise und sie mit Kleidern, Gürteln und Lendentüchern beschenke. Er sei gekommen, um ihn
kennenzulernen. Der Hausherr lud ihn daraufhin zum Essen ein und versicherte seinem Gast, daß er auch brahmanische Köche habe, daß also auch Brahmanen bei ihm ohne Bedenken essen könnten. Der Schüler nahm die Einladung an, erklärte aber, daß er erst im Fluß baden wolle. Um zu vermeiden, daß alle Lendentücher im Regen naß wurden, bat er den Hausherrn, ihm eines seiner Tücher an einem trockenen Ort
aufzubewahren. Er betonte, daß es sich um ein besonders wertvolles Lendentuch handle, das sorgsam aufbewahrt werden müsse. Dann ging er zum Baden. Der Hausherr aber legte das Lendentuch an einen passenden Ort.
Beim Baden bewirkte der Gott, der ja nur die Gestalt eines Schülers angenommen hatte, daß das Tuch verschwand. Er kam ganz durchnäßt ins Rasthaus zurück. Amarnitinayanar ging ihm entgegen und meldete ihm, daß die Tafel gedeckt sei.
Der Brahmanenschüler antwortete, er müsse zuerst die Kleider wechseln. Alles, was er zum Baden mitgenommen habe, sei naß geworden, und er bitte deshalb um das trockene
Lendentuch. Der Hausherr lief schnell ins Haus, suchte lange vergeblich und kam schließlich zitternd mit einem anderen Tuch wieder. Er sagte: »Herr, ich kann das Lendentuch, das du mir gegeben hast, nicht finden. Es ist nicht mehr an dem Platz, auf den ich es gelegt habe. Es ist spurlos verschwunden. Bitte nimm dieses Lendentuch. Es ist ein besonders wertvolles Tuch mit gewebten Borten ringsherum. Bitte nimm es an und lege deine nassen Sachen ab. Ich bitte dich, mir diesen
unangenehmen Vorfall zu verzeihen!« Der Brahmanenschüler aber fuhr ihn zornig an: »Was soll das? Heute habe ich dir mein Lendentuch gegeben, nicht vor langen Tagen! Und da soll es verschwunden sein? Ohne jede Spur? Unauffindbar? Du hast es gestohlen! Was soll ich mit deinem Lendentuch? Hast du deshalb verbreiten lassen, daß du an die Shivamönche Lendentücher verteilst, um das meine in die Hand zu
bekommen? Du gefällst mir nicht!« Der Hausherr wurde immer bleicher und antwortete zitternd: »O Herr, glaubt es mir doch, ich habe mich nicht wissentlich vergangen! Verzeiht mir! Ich will gern noch Gold, ich will seidene Gewänder und Edelsteine geben. Nehmt sie bitte als Entschädigung an.« Jetzt antwortete ihm der Brahmanenschüler ruhig: »Was soll ich mit deinen seidenen Gewändern, mit Gold und Edelsteinen? Mir genügt ein Lendentuch, das mir paßt. Es muß nur das gleiche Gewicht haben wie das meine.« Da wurde das Gesicht des Hausherrn wieder hell. Er fragte, wie schwer das Tuch sein müsse. Daraufhin löste der Brahmanenschüler das Lendentuch, das noch an seinem Stab hing und sagte: »Es hat dasselbe Gewicht wie das verlorene. Wiege mir ein gleich schweres auf!« Der Hausherr holte schnell eine Waage. Er legte in die eine Schale das Lendentuch des Brahmanenschülers, in die andere aber das schöne Tuch, das er schon einmal zum Austausch angeboten hatte. Die Schale schnellte in die Höhe.
Da holte er alle Lendentücher, die er hatte, und legte eines nach
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