Das Hausbuch der Legenden
nichts mehr zu machen.
Haben die Schiffer in Wind und Wogen und Wolkendunkel die Richtung verloren, dann rufen sie die Himmelskönigin an.
Sie setzt eine rote Lampe über den Wassern aus. Wer dieser Lampe folgt, kommt sicher ans Ziel. Oft steht sie auch mitten in den Gewitterwolken und zerteilt die Winde.
Vor dem Bild der Himmelskönigin in der Kajüte ist immer ein hölzerner Stab. Wenn die großen Fischdrachen auf dem Meer spielen und die Wasser gegeneinander in die Höhe blasen, so daß der Himmel finster wird und das bewegte Meer in ihrem dunklen Schatten liegt, dann sieht man oft aus der Ferne eine lichte Öffnung in diesem Dunkel. Wer mit seinem Schiff gerade darauf zu hält, kommt durch und ist plötzlich wieder in einer Windstille. Wer zurückblickt, sieht, wie die beiden Drachen weiter Wasser speien. Das Schiff ist durch ihre geöffneten Mäuler gesegelt. Wenn die Fischdrachen
schwimmen, ist immer ein Sturm in der Nähe. Man verbrennt dann Schafwolle oder Papier, damit die Drachen das Schiff nicht in die Tiefe ziehen; oder man läßt den Stabmeister im Schiff vor dem Stab in der Kajüte Weihrauch verbrennen. Er schwingt dann den Stab über den Wassern einmal im Kreise.
Dann ziehen die Drachen den Schwanz ein und verschwinden.
Vor vielen hundert Jahren wurde ein großes Heer ausgerüstet, das Formosa unterwerfen sollte. Die Fahne des Heerführers wurde mit dem Blut eines weißen Pferdes geweiht. Da erschien plötzlich die Himmelskönigin auf der Spitze der Fahne, sie war nur einen Augenblick lang zu sehen, aber der Kriegszug hatte Erfolg.
Zu Zeiten des erhabenen Kaisers Kienlung erhielt der Minister Dschou Ling den Befehl, auf den Liu-Kiu-Inseln einen neuen König einzusetzen. Als das Schiff südlich an Korea vorbeisegelte, erhob sich ein Sturm, und es wurde verschlagen.
Das Wasser war schwarz wie Tinte; Sonne und Mond hatten ihr Licht verloren. Alle redeten davon, daß ihr Schiff in den Schwarzen Wirbel geraten sei, der noch keinen Menschen lebend herausgegeben hat. Kapitän, Mannschaften und
Reisende warteten auf ihr Ende.
Plötzlich sahen sie unzählige rote Lichter über dem Wasser.
Da wurden die Schiffer wieder zuversichtlich, beteten in der Kajüte und sagten: »Die heilige Mutter ist gekommen, wir werden leben!« Da erschien wirklich eine schöne Jungfrau mit goldenen Ohrringen. Sie strich mit der Hand durch die Luft, und der Wind legte sich, die Wogen wurden still. Ein jeder hatte das Gefühl, das Schiff werde von einer mächtigen Hand gezogen. Beschwingt glitt es durch die Wellen und plötzlich war es außerhalb des schwarzen Wirbels. Dschou Ling kam zurück, berichtete ausführlich über das, was sie erlebt hatten, und bat den Kaiser, die Himmelskönigin in die Liste der Götter aufzunehmen und ihr Tempel zu errichten. Der Erhabene erfüllte diese Bitte. Seitdem stehen in allen Hafenorten Tempel der Himmelskönigin. Am Achten des vierten Monats aber wird ihr Geburtstag mit Schauspielen und Opfern gefeiert.
Die Macht des Asketen
DER HEILIGE VASHISTA hatte eine wunderbare Kuh, die ihm jeden Wunsch erfüllte. König Visvamitra wollte diese Kuh erwerben, aber der Heilige gab sie nicht her. Da brauchte Visvamitra Gewalt. Er ließ seine hundert Söhne gegen den Brahmanen antreten. Aber sie stürmten vergeblich, sie verbrannten in der Glut der Andacht, die aus dem Mund des Heiligen wehte. Da sah der König keinen Weg mehr, auf dem er mit roher Gewalt zu seinem Ziel kommen konnte. Er wollte durch außerordentliche, durch ungewöhnliche Bußübungen magische Kräfte sammeln, mit denen er Vasistha überwinden konnte. Darum ging er hundert Jahre in die Einsamkeit, stand auf den Zehen und hatte keine andere Nahrung als die Luft.
Dann fühlte er sich stark und mächtig genug, den Gegner wieder anzugreifen. Aber der Heilige wehrte ihn ohne Mühe ab. Visvamitra war wohl König auf dieser Erde, Vasistha aber war ihm als Brahmane – auch dem Range nach – weit überlegen. Visvamitra unterwarf sich nun den härtesten Kasteiungen, um sich den Rang eines Brahmanen zu erdienen.
Nach tausend Jahren verlieh ihm Brahma den Rang eines königlichen Weisen. Aber das konnte dem König nicht
genügen, er wollte, er mußte Brahmane werden. Er büßte weiter. Er sammelte wunderbare Kräfte. Er prüfte, was er schon vermochte: Da war Trisanku,der bei lebendigem Leibe in den Himmel aufsteigen wollte. Er hob ihn empor, und als Indra ihm den Eintritt in den Himmel verwehrte, schuf König Visvamitra im Süden
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