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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Pfeilwurz, mit schlanken, aber zähen Stämmen, und tragen mit. In den niederen Raum zwischen Himmel und Erdoberfläche waren vor Zeiten die Menschen eingeschlossen. Da kam Ru einmal aus Avaiki in diese lichte, aber enge Oberwelt. Ihn dauerten die Sterblichen. Er fällte die ältesten Bäume, machte daraus starke Pfähle und pflanzte sie in der Mitte der Welt in den Boden. Nun erst konnten die Menschen aufrecht gehen. Ru aber wird seither der
    »Himmelsstützer« genannt. Ru war schon sehr alt, als er sich sein Werk wieder einmal wohlgefällig ansah. Da kam sein Sohn Maui dazu und fragte ihn hochmütig, was er denn hier in der Oberwelt zu schaffen habe. Ru antwortete zornig: »Wer hat dir erlaubt, freche Reden zu führen, du patschnasser Bursche?
    Noch ein mutwilliges Wort und du hast gelebt!« Maui
    erwiderte höhnisch: »Dann versuche doch einmal, mit mir fertigzuwerden!« Da packte Ru den zierlichen Maui und schleuderte ihn hoch in den Himmel. Im Fallen aber nahm Maui die Gestalt eines Vogels an und landete unversehrt. Er war rot vor Wut und dürstete nach Rache. Darum verwandelte er sich in einen Riesen, einen fürchterlichen Riesen, lief seinem Vater nach und rief: »Nun Ru, du Träger aller Himmel!
    Fahre auf zum Himmel! Fahre zum dritten, fahre zum
    siebenten, fahre zum höchsten!« Dazu steckte Maui seinen mächtigen Schädel zwischen die Beine des alten Mannes, nahm alle seine Kräfte zusammen und schleuderte Ru mit solcher Wucht hinauf, daß er das ganze Himmelsgewölbe mit sich riß. Er flog mitsamt dem Himmel so hoch, daß sie nicht mehr zurückfallen konnten. Auf diese Weise wurde das Himmelsgewölbe in seine jetzige Lage gehoben. Ru aber hatte sich mit Haupt und Schultern in den Sternen verfangen. Er war in einer qualvollen Lage. Sein Körper vermoderte allmählich.
    Nach und nach fielen seine riesigen Gebeine auf die Erde. Die grauen Bimssteine sind über alle Täler und Hügel der Insel verstreut und heißen heute noch »die Gebeine des Ru«.

    Wie der Tod in die Welt kam

    DIE MENSCHEN waren zahlreich wie die Drosseln. Keiner starb.
    Es gab keinen Tod durch Zauberei, und niemand wußte, was Weinen ist. Die Menschen wurden zwar alt, aber sie starben nicht, die Männer starben nicht, und die Frauen starben auch nicht. Da regnete es, und alle Menschen gingen zusammen ins Schwitzhaus. Dann kam der Schnee.
    Der Koyote, der einen Sohn hatte, sprach zu den drei Männern, die auf der Südseite des Schwitzhauses saßen: »Wir wollen die Menschen sterben lassen.« Die Eidechse ließ den Kopf hängen; bei ihr saßen das Waldkaninchen und das Graueichhörnchen, und alle drei waren traurig, als der Koyote weiter sagte: »Es ist gut, wenn die Menschen sterben.«
    »Die Menschen sollen nicht sterben«, sagte die Eidechse,
    »wir wollen nicht weinen, wenn die Menschen sterben, aber sie sollen wieder zum Leben erwachen. Wir wollen sie, wenn sie tot sind, in der Erde begraben, aber sie sollen wieder auferstehen, und deshalb wollen wir sie auch nicht zu tief begraben.«
    »Warum sollen denn die Menschen wieder zum Leben
    zurückkehren?« fragte der Koyote. »Laßt sie nur wirklich tot sein, wenn sie sterben; wenn einer stirbt, wollen wir weinen: Hu-u-u! Und so sollen es die Menschen in Zukunft auch machen. Und dann sollen sie sich Pech auf die Augen schmieren und weiße Tonerde auflegen und dadurch ihre Trauer zeigen!« Dagegen hatten die Eidechsen nichts
    vorzubringen. Sie waren geschlagen. Es schneite; die Bäume waren ganz mit Schnee bedeckt. Die Eidechse, das
    Graueichhörnchen und das Waldkaninchen flüsterten
    miteinander. Die Menschen gingen nicht aus dem Haus, weil sie sich vor dem Schnee fürchteten. Sie drängten sich lieber im Schwitzhaus zusammen. Da wurde ein Mann krank. Die
    Eidechse hatte es bewirkt. Er starb. Der Koyote sagte nichts, niemand weinte um den Toten. Da fragte das Waldkaninchen:
    »Was sollen wir mit dem Leichnam anfangen?« – »Wir wollen ihn begraben.« – »Wo sollen wir ihn denn begraben? Draußen liegt zu viel Schnee!« – »Begrabt ihn hier im Schwitzhaus, auf der Südseite!« Sie gruben ein Loch und legten ihn hinein, aber nicht sehr tief. Dann deckten sie ihn mit Erde zu. Draußen fiel noch immer Schnee. Bald begann sich die Erde über dem Grab leicht zu bewegen. Der Koyote saß da und schaute hin. Der Tote rührte sich in seinem Grab. Er versuchte, wieder ins Leben zurückzukehren. Der Koyote ließ das Grab nicht aus den Augen. Als der Tote sich halb aufrichtete, sprang der

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