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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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ihm schwer und groß vor.
    Aber er war müde und mußte noch für Wein sorgen. Darum dachte er nicht weiter darüber nach. Er stieg in den Keller, nahm den vorhandenen kleinen Weinvorrat, goß ihn in einen irdenen Krug, mischte ihn und setzte ihn seinen Gästen vor.
    Diese aßen mit großem Hunger und sichtlichem Vergnügen. Es sah fast so aus, als hätten sie lange kein so leckeres Mahl mehr bekommen. Sie lobten die Hausfrau und priesen den Wein. Die gute alte Baucis wurde rot vor Verlegenheit und Freude.
    Philemon aber mußte sich wundern. Er hatte die Pflaumen eben im Garten gepflückt. Die Pflaumen auf dem Tisch waren aber jetzt dreimal so groß. Aber er konnte der Frage nicht weiter nachgehen. Die Gäste hatten schon zwei Becher ausgetrunken, und der Mischkrug war fast leer. Er konnte den geringen Rest unmöglich noch einmal verdünnen. Er wußte aber auch nicht, was er anbieten sollte, wenn die Gäste weitertranken. Darum trug er die frisch gefüllten Becher nur zögernd an den Tisch und stellte sie so, daß jeder Mühe hatte, sie zu greifen. Aber das störte den jungen Burschen nicht.
    Kaum hatte Philemon sich umgedreht, rief er: »Der dritte Trunk sei Zeus geweiht, dem Retter!« Und die beiden tranken aus und stießen die leeren Becher krachend auf den Tisch.
    Philemon griff jetzt zitternd nach den Trinkgefäßen und ging ziellos durchs Zimmer, als wüßte er nicht, wo der leere Weinkrug stand, so daß der Junge ihm lachend und scherzend zeigte, wohin er sich wenden müsse. Da war aus der Ecke ein seltsames Rieseln zu hören, und der kräftige Duft würzigen Weines erfüllte den Raum. Als Philemon in den Mischkrug sah, war er voll bis zum Rand. Er füllte die Becher, trug den wunderbaren Wein zu seinen Gästen, nahm Baucis beiseite und flüsterte ihr zu: »Frau, hast du die großen Pflaumen gesehen? Hast du beobachtet, wie der Mischkrug sich von selbst füllte, mit einem Wein, der nicht bei uns wächst?
    Wunder geschehen in unserer Hütte. Unsere Gäste müssen mehr sein als Menschen. Geh in den Schuppen und schlachte die Gans!«
    Die Gans aber merkte schnell, worum es ging. Sie ließ sich nicht fangen. Sie entwischte in die Hütte, und als Philemon sie dort greifen wollte, flog sie auf und schlug laut schnatternd mit ihren Flügeln ans Schilfdach, so daß Tisch und Gäste bald mit Daunen beschneit waren.
    Da griff Philemon nach einer großen Gabel. Die Gans aber erriet seine Absicht und ließ sich im entscheidenden Augenblick auf die Knie des weißbärtigen Gastes fallen.
    Der legte seinen linken Arm schützend um das Tier, hob mit der Rechten einen kurzen Stab und sagte: »Du hast wahr gesprochen, mein Philemon. Eure Gäste sind mehr als
    Menschen! Ihr habt übergenug für uns getan. Ihr sollt die einzige Gans nicht für uns schlachten. Ihr habt in eurer Güte mehr getan, als die üblichen Gesetze der Gastfreundschaft fordern.« Während der Alte das sagte, verwandelte er sich: Haupthaar und Bart wuchsen ihm mächtig, wurden blond und fielen ihm in breiten Locken auf die Schultern.

    Statt des verschossenen alten Mantels trug er jetzt ein prächtiges Purpurgewand, und um Hand und Stab leuchtete ein seltsamer Lichtkranz. Er sah die beiden Alten mit freundlichen hellen Augen an und lächelte. Philemon und Baucis fielen auf die Knie und baten um Vergebung; denn sie fürchteten, daß sie sich in ihrer Unwissenheit falsch benommen hätten. Zeus aber befahl ihnen, aufzustehen und ihm und Hermes zu folgen.
    Sie stiegen den Pfad hinauf bis zum Gipfel ihres Berges. Von dort beobachteten sie, wie sich über der Ebene ein schweres Wetter zusammenzog. Selbst im grellen Licht der Blitze sah man nichts mehr von den Häusern des Dorfes. Sie hörten das Brausen eines reißenden Stromes, von dem sie nichts wußten; und als der Sturm die schwere Wolkendecke zerriß und der Tag heraufkam, sahen sie weit und breit kein Dorf mehr, keine Äcker, keine Wiesen, keine Gärten, keine Bäume. Sie standen hoch über einem unabsehbaren bewegten See, der den Hang herauf bis zu dem Platz reichte, wo ihre Hütte gestanden hatte.
    An ihrer Stelle erhob sich jetzt ein prächtiger, weithin sichtbarer Marmortempel.
    Die beiden alten Leute erschraken sehr, als sie das sahen.
    Zeus aber nickte ihnen freundlich zu und sagte: »Eure Nachbarn aus dem Dorf sind nicht tot. Sie sind nur stumm. Sie werden nicht mehr schimpfen, sie werden keine Steine mehr werfen. Sie sind stumme Fische, die das große Wasser bevölkern. Und dort seht ihr euer Haus,

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