Das Hausbuch der Legenden
das auch mein Haus ist, ein Tempel des Zeus. Dort sollt ihr den Tempeldienst versehen, bis eure Zeit vollendet ist. Viele Fremde werden zu dem Tempel pilgern und euch besuchen. Ihr werdet mir auf diese Weise noch viele Jahre dienen. Heute aber müssen wir Abschied nehmen voneinander. Sagt mir noch einen Wunsch, den ich euch erfüllen kann!« Die beiden Alten sahen sich kurz und liebevoll an. Dann antwortete Philemon: »Du weißt, Herr, daß wir schon sehr alt sind. Wir haben ein gutes und erfülltes Leben hinter uns. Ich kann nicht ohne Baucis leben und sie nicht ohne mich. Vergönne uns deshalb, daß wir am selben Tag aus diesem Leben genommen werden!«
Zeus erfüllte ihnen diesen Wunsch. Lange Jahre danach sahen Fremde, die mit einem Schiff über den See kamen, die beiden Alten vor ihrem Tempel stehen und winken. Als sie landeten und vor den Tempel kamen, waren Philemon und Baucis verschwunden. An ihrer Stelle standen zwei mächtige Bäume vor dem Tempel, eine Linde und eine Eiche. Sie standen dicht nebeneinander, die hellgrüne Linde wirkte fröhlich im Licht der Sonne vor der dunklen Eiche. Erstaunt blickten die Gäste hinauf bis in die Wipfel der hochragenden Bäume. Und einer glaubte, im Rauschen der Blätter die Namen Philemon und Baucis zu hören. Als er es aussprach, hörten es auch die anderen. Und wer auch in den folgenden
Jahrhunderten zu dem Tempel kam, lobte den gastfreien Schatten des immer leise rauschenden Baumpaars.
Heroen, Dämonen oder Götter?
FÜNF JAHRE war Sosipatra alt, als zwei betagte Männer auf das Gut ihrer Eltern kamen. Sie trugen ihre Habe in großen Ranzen auf dem Rücken und sahen nicht gerade stattlich aus in ihren abgetragenen Fellkleidern. Trotzdem erfüllte der Gutsverwalter ihre Bitte und vertraute ihnen die Pflege der schlechten und verrotteten Weinberge an, eine mühevolle Arbeit, die niemand gern übernahm. Schon die nächste Weinlese brachte wider Erwarten eine reiche und gute Ernte. Der Verwalter, die anderen Gutsarbeiter und die Nachbarn bestaunten und beredeten diesen plötzlichen Wandel. Niemand glaubte an einen natürlichen Vorgang. Alle meinten, daß hier Götter oder Dämonen die Hand im Spiel hätten. Der Herr des Gutes aber tadelte seine eigenen Leute, weil sie mit ihren Künsten nicht so weit gekommen waren wie die Fremden. Er ehrte die beiden alten Männer und lud sie an seinen Tisch. Auf diese Weise konnten sie das aufgeschlossene, lebhafte und liebenswürdige Wesen der Sosipatra näher beobachten. Das Kind gewann bald die Herzen der betagten Männer. So kam es, daß diese eines Tages zum Vater sagten: »Wir können und wollen dir die Geheimnisse und Künste nicht verraten, mit denen wir deine Weinberge fruchtbar gemacht haben. Für uns war die Lösung dieser Aufgabe nur ein Spiel, ein Scherz, den wir schon wieder vergessen haben; denn wir können mehr. Erlaube uns, daß wir dir für deine Gastfreundschaft und deine Gaben mit einem Geschenk danken, das keinen Geldwert hat, mit einem
außerordentlichen, himmlischen Geschenk, das dich und die Deinen beglücken und über deinen irdischen Stand heben wird.
Wir haben deine kleine Tochter beobachtet und liebgewonnen.
Vertraue uns das Mädchen fünf Jahre lang an. Wir werden Sosipatra wie gute Väter erziehen und führen. Sei unbesorgt!
Sie wird in dieser Zeit nie krank sein oder gar sterben. Sei ruhig und zuversichtlich! Du darfst aber das Gut erst wieder betreten, wenn die Sonne in ihrem Kreislauf das fünfte Jahr vollendet hat. Das Gut wird weiter gedeihen und dir reiche Ernten bringen. Deine Tochter aber wird nach diesen fünf Jahren nicht wie ein Weib oder ein Mensch sein. Du selbst wirst erkennen, daß durch sie ein höheres Wesen wirkt.
Vertraust du uns, dann nimm mit offenen Händen, was wir dir anbieten. Hegst du aber Verdacht, dann haben wir nichts gesagt.«
Der Vater fügte sich schweigend. Er überantwortete den beiden Männern das Kind, ließ seinen Verwalter rufen und befahl ihm: »Gib den Alten, was sie begehren, und spüre ihnen nicht weiter nach!« Im Morgengrauen verließ er fluchtartig die Tochter und das Gut. Die beiden Männer aber, von denen niemand wußte, ob sie Menschen waren wie wir oder Heroen oder Dämonen oder noch göttlicheren Ursprungs, sie nahmen das Kind, und niemand erfuhr, in welche Geheimnisse sie es einweihten. Niemand wußte, nach welchen Grundsätzen sie ihm das Göttliche einpflanzten, so sehr sich alle bemühten, hinter die Dinge zu sehen. Das Gut brachte die
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