Das Hausbuch der Legenden
Rivalen. Aber sie focht das weiter nicht an. Als der heilige Paphnutius von ihr hörte, zog er ein weltliches Habit an, steckte einen Solidus zu sich und reiste zu ihr. Es war nicht leicht, bis zu ihr vorzudringen. Als er schließlich vor ihr stand, gab er ihr den Solidus als Sündenlohn. Sie nahm das Geld und sagte: »Laß uns in die Kammer gehen!« Als sie das Zimmer betraten, stand da ein prächtiges Bett mit
reichgeschmückten Decken. Thais lud den Gast ein, es zu besteigen. Paphnutius aber sagte: »Hast du kein geheimeres Gemach?« Sie führte ihn in einen zweiten, in einen dritten, in einen fünften Raum. Aber dem Fremden war keines der
Zimmer geheim genug. Er hatte immer noch Angst, daß ihn jemand sehen könnte. Da sagte Thais: »Ich habe noch ein Zimmer, in dem uns kein menschliches Auge finden kann.
Hast du aber Angst vor Gott, dann laß dir sagen, daß es kein Geheimnis gibt, das ihm verborgen bleibt.« Darauf fragte Paphnutius: »Dann weißt du also, daß es einen Gott gibt?« Sie erwiderte: »Ich weiß natürlich, daß es einen Gott gibt, ich weiß auch, daß es eine vergeltende Gerechtigkeit gibt.« Da wurde der Abt sehr ernst und sagte: »Wenn du das alles weißt, warum hast du dann so viele Seelen zugrunde gerichtet? Weißt du denn nicht, daß du nicht nur für deine Seele, sondern auch für die Seelen der anderen Rechenschaft ablegen mußt?« Da fiel die Buhlerin dem Abt zu Füßen, weinte sehr und sagte: »Ich weiß aber auch, daß es eine Buße gibt. Ich hoffe, durch dein Gebet Verzeihung zu erlangen. Laß mir nur drei Stunden Zeit, dann will ich mit dir gehen, wohin du willst, und tun, was du willst.«
Da nannte ihr der Abt einen Ort, an dem er sie erwarten wollte. Thais aber trug alles zusammen, was sie mit ihren Sünden erworben hatte, warf es auf einen Haufen und
verbrannte es auf dem Markt vor allem Volk. Dann ging sie zu Paphnutius. Er führte sie in ein Frauenkloster, schloß sie in eine kleine Zelle und verriegelte die Tür. Nur ein enges Fenster blieb, durch das ihr täglich Brot und Wasser gereicht wurden.
Beim Abschied fragte sie ihn, wie sie denn zu Gott beten solle.
Der Abt sagte: »Du bist nicht würdig, den heiligen und reinen Gott zu nennen. Hüte dich, seinen Namen auszusprechen! Hüte dich, deine Hände zum Himmel zu erheben! Deine Hände sind noch voll Schmutz, deine Lippen voll Unrat! Lege dich auf den Boden, richte deinen Blick nach Osten und rufe von Zeit zu Zeit: ›Der Du mich geschaffen hast, erbarme Dich meiner!‹«
Drei Jahre lebte die Buhlerin eingeschlossen und von aller Welt verlassen. Da bekam der Abt Mitleid mit ihr und reiste zum heiligen Antonius, um durch ihn zu erfahren, ob der Herr ihr die Sünden erlassen habe. Antonius rief seine Brüder zusammen, legte ihnen den Fall dar und hieß sie die Nacht durch beten und Gott um sein Urteil bitten. Da sah der Abt Paphnutius den Himmel offen. In der Mitte stand ein
köstliches, reich verziertes Bett, das drei Jungfrauen mit leuchtenden Gesichtern bewachten. Die erste stellte die Furcht vor göttlichen Strafen dar, welche vom Bösen abhält; die zweite die Reue über die begangenen Sünden, die auf
Vergebung hoffen läßt, die dritte die Liebe zum Guten, welche den Geist zum Himmel trägt. Paphnutius fragte im Traum, ob diese Herrlichkeit für den heiligen Antonius vorbereitet sei. Zu seiner Überraschung bekam er die Antwort, das Lager sei für die reuige Sünderin Thais bereitet. Als Paphnutius das hörte, zog er vergnügt nach Hause, entsiegelte die Tür der Thais und sagte: »Komm heraus, meine Tochter! Deine Sünden sind dir vergeben!« Sie aber antwortete:
»Gott ist mein Zeuge, daß ich, seit ich diesen Ort betreten habe, meine Sünden immer vor Augen habe. Ich konnte bei ihrer Betrachtung nicht aufhören, zu weinen.« Da sagte Paphnutius zu ihr: »Gott hat dir deine Sünden nicht erlassen, weil du Buße getan hast. Er hat dir verziehen, weil du die ganze Zeit über in der Furcht Gottes warst.« Thais verließ die Zelle. Sie lebte noch vierzehn Tage und entschlief dann am fünfzehnten Tag in Frieden.
Der Abt Gerasimus und sein Löwe
DER HEILIGE ABT Gerasimus ging einmal am Ufer des Jordan spazieren. Da kam ein Löwe auf ihn zu; er kam sehr langsam und brüllte dazu laut, er ging zu langsam für ein Tier, das angreifen will, aber er brüllte wie im Zorn. Der Abt wunderte sich über dies merkwürdige Verhalten und beobachtete das Tier. Der Löwe aber blieb brüllend und winselnd vor ihm stehen und hob
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