Das Hausbuch der Legenden
seinen Fuß, um ihn zu zeigen. Die Pfote war geschwollen und stark vereitert. Der Löwe war in einen Rohrsplitter getreten. Gerasimus hockte sich auf den Boden, nahm den Fuß, schnitt ihn auf, entfernte den Splitter, drückte den Eiter aus und wusch die Wunde sorgsam. Dann machte er einen festen Verband und ließ den Löwen laufen. Der Löwe aber wich nicht mehr von seiner Seite; er blieb auch bei ihm, als der Fuß geheilt war. Gerasimus und seine Mönche
wunderten und freuten sich über die Dankbarkeit des Tieres, das sich mit Brot und gequellten Bohnen begnügte; denn Fleisch gab es bei den Mönchen nicht. Sie aßen Brot und Gemüse und tranken dazu Wasser aus dem Jordan, der etwa eine Meile von ihrem Kloster entfernt war. Das Wasser holten sie in kleinen Fässern, die ihnen ein Esel trug. Diesen Esel schickten sie nun zusammen mit dem Löwen zum Weiden auf die Uferwiesen des Flusses. Das ging lange Zeit gut, bis der Esel sich eines Tages so weit von seinem Beschützer entfernt hatte, daß ihn arabische Kameltreiber unbemerkt fangen und wegführen konnten. Der Löwe kam zur gewohnten Zeit ohne Esel ins Kloster zurück. Er stand traurig und mit gesenktem Haupt vor seinem Abt. Gerasimus nahm an, daß er den Esel gefressen habe, und sagte zu ihm: »Wo ist der Esel?« Der Löwe aber konnte nicht antworten und stand wie ein Mensch, der sich seiner schweren Schuld bewußt ist und sie bereut. Er gab keinen Laut von sich. Da sagte der Abt: »Du hast ihn gefressen! Aber, Gott sei Dank, wir haben ja dich. Nun wirst du die Arbeit des Esels übernehmen und die vier Wasserfässer schleppen.«
Eines Tages kam ein Soldat ins Kloster, um sein Gebet zu verrichten. Der sah den Löwen mit dem Lastsattel. Als er hörte, wie der Löwe zu dieser Aufgabe gekommen war,
bedauerte er ihn sehr, zog drei Goldstücke aus der Tasche, gab sie den Mönchen und bat sie, für das Geld einen neuen Esel zu kaufen und dem Löwen die Freiheit zu geben.
Einige Monate später kamen die Kameltreiber wieder
vorbei, die seinerzeit den Esel gestohlen hatten. Sie wollten nach Jerusalem, um Getreide zu verkaufen und führten dazu auch den Esel mit sich. Als sie den heiligen Jordan
überschritten, begegnete ihnen der Löwe. Sie bekamen Angst, ließen ihre Tiere mitsamt den Lasten zurück und flohen. Der Löwe aber erkannte seinen Weidegenossen wieder, schnappte nach alter Gewohnheit nach dem Halfterriemen und führte den Esel und drei Kamele zu seinem Abt. Er brüllte vor Freude, weil er den Esel wiedergefunden hatte.
Da sahen alle, daß sie dem Löwen Unrecht getan hatten. Sie tauften ihn Jordanes. Er blieb noch fünf Jahre lang der unzertrennliche Begleiter des Abtes. Als der greise Gerasimus zum Herrn einging und von den Vätern begraben wurde, war der Löwe nicht im Kloster. Er kam wenige Tage später zurück und suchte überall seinen Herrn. Der neue Abt und die Mönche und Schüler sagten zu dem Löwen: »Jordanes, unser Vater Gerasimus war schon sehr alt. Er hat uns alle als Waisen hinterlassen. Er ist zum Herrn eingegangen. Komm, nimm nun dein Futter von uns!« Aber der Löwe nahm nichts von ihnen an, er suchte weiter und brüllte laut, weil er seinen Herrn nicht finden konnte. Die Mönche streichelten ihn und redeten ihm gut zu und sagten ihm wieder, daß ihr alter Abt gestorben sei.
Aber der Löwe brüllte immer lauter und wurde immer
unruhiger. Da griff ihm der junge Abt in die Mähne und sagte:
»Wenn du uns nicht glaubst, dann komm mit, wir wollen dir sein Grab zeigen.« Und sie führten ihn die halbe Meile bis zum Grab des Gerasimus. Dort knieten sie nieder und beteten. Als der Löwe dies sah, legte auch er sein Haupt auf das Grab seines Herrn und starb. Dies ist nicht geschehen, weil der Löwe eine vernünftige Seele hat, sondern weil Gott auch durch das Tier jenen Ehre geben will, die ihn ehren, in diesem und in jenem Leben; es geschah, weil Gott daran erinnern wollte, daß dereinst alle Tiere Adam Untertan waren, bis er aus den Freuden des Paradieses vertrieben wurde.
Der Mörder und der Mönch
IN ARSENOE, einer Stadt in Ägypten, wurde ein Mörder gefangen, der seine Tat erst nach einer langen Folterung gestand. Er wurde zum Tode verurteilt und an den Ort der Tat geführt, der sechs Meilen vor der Stadt lag. Dort sollte er geköpft werden. Unter den Neugierigen, die ihn begleiteten, war auch ein Mönch. Da richtete der Mörder das Wort an den Mönch und sagte: »Herr und Vater, habt Ihr denn keine Zelle und keine Arbeit?« Der
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