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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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ging neun bis zehn Jahre; der Abt und die Ältesten konnten ihm keine Zügel anlegen. Eines Tages ging ein übler Geruch von ihm aus, der die Brüder anekelte, so daß sie nicht mehr mit ihm essen oder beten wollten.
    Vergeblich fragte ihn der Abt nach der Ursache dieses Zustandes. Symeon schwieg. Die Brüder mußten ihm die Kleider mit Gewalt vom Leibe ziehen. Sie sahen eine lange, schwärende Wunde, die sich um die Mitte seines Leibes zog.
    Ärzte mußten ihm aus dieser Wunde ein rauhes Brunnenseil schneiden, das sich der Asket so eng um den Leib gebunden hatte, daß es ihn schwer verletzte. Der Abt mußte Symeon dazu zwingen, sich behandeln und die Wunde ausheilen zu lassen. Dann entließ er ihn aus dem Kloster, weil er fürchtete, daß jüngere und schwächere Brüder ihm nacheifern und dabei zugrunde gehen könnten.
    Symeon aber fand im einsamen Gebirge eine alte,
    vertrocknete Zisterne. Er ließ sich hinab, teilte seine Wohnung mit Schlangen, Kröten und vielerlei Ungeziefer und sang dort das Lob Gottes. Inzwischen träumte der Abt vom Tod des verstoßenen Mönches. Er schickte Brüder aus, die ihn suchen sollten. Sie fanden ihn nach sieben Tagen und zogen den ausgehungerten Mann mit viel Mühe aus dem Brunnen.
    Symeon blieb aber nur kurz im Kloster. Er fand weiter nördlich eine halbverfallene Klostersiedlung und einen anderen Gottesmann, einen gewissen Bassus, den er bat, ihn für die vierzig Fastentage in seine Zelle einzumauern. Der greise Bassus, der einem Kloster mit zweihundert Mönchen vorstand, mahnte Symeon, seine Kasteiungen nicht zu übertreiben. Er sagte ihm, daß ein gewaltsamer Tod durch Verhungern keine Tugend, sondern ein schweres Verbrechen sei. Da bat ihn Symeon: »Vater, dann stellt mir zehn Brote und ein Gefäß mit Wasser in die Zelle. Wenn ich merke, daß der Körper sie nicht mehr entbehren kann, werde ich davon nehmen.« Als Bassus nach vierzig Tagen die Tür öffnete, fand er die Vorräte unversehrt. Symeon lag schwer atmend am Boden und konnte nicht sprechen und sich kaum bewegen. Aber er kam langsam wieder zu sich, als Vater Bassus ihn Lattich und Endivien kauen ließ. Symeon blieb drei Jahre in dieser Zelle. Dann zog er in die Einsamkeit der Berge, wo ihm ein befreundeter Priester ein Grundstück zur Verfügung stellte, das nur aus einem verwilderten Garten bestand, der von einer hohen Mauer umgeben war. Symeon ließ sich mit einer zwanzig Ellen langen Kette an diese dachlose Wohnung fesseln, bis ihn ein Bischof, der den inzwischen berühmt gewordenen Asketen besuchte, erklärte, daß doch der Wille genügen müsse, um dem Körper geistige Fesseln anzulegen. Auch hier und alle Jahre seines künftigen Lebens nahm der Asket in den vierzig Fastentagen nichts zu sich. Pilger kamen von weither, um ihn um seinen Rat, seine Hilfe und seinen Segen zu bitten. Er heilte Kranke und tröstete Ratlose. Um sich der
    Zudringlichkeit der Leute zu entziehen, stellte sich Symeon schließlich auf eine Säule, die sechs Ellen hoch war. Dort stand er Tag und Nacht, ohne jedes Obdach, allen Unbilden des Wetters ausgesetzt. Alle, die kamen, sahen ihn hoch oben stehen, über der doppelten Mauer, die sich um seinen engsten Lebensbereich zog. Er stand wie ein Hirte, den die Herde umdrängt und der auf die Herde acht hat. Vom Abend an bis in den Morgen betete er. Er erwies dem Herrn seine Reverenz mit tausend Verbeugungen. Er war so dünn und mager, daß er dabei mit der Stirn fast die Zehen berührte. An seinen Beinen bildeten sich mit der Zeit unheilbare Geschwüre; die Sonne blendete ihn zu Zeiten so sehr, daß er fast blind wurde, das übermäßige Fasten und Wachen und Stehen brachte ihm noch manches andere Leiden. Aber er bestand sie alle. Er wurde fünfundsiebzig Jahre alt auf seiner Säule.
    Nach der neunten Morgenstunde sprach er zu den Pilgern, legte das Wort Gottes aus, ermahnte sie, forderte sie zur Buße auf, predigte gegen das falsche Schwören, gegen die Sklaverei, gegen die Buhlerei und alle Versuchungen des Satans. Dann hörte er die Anliegen der einzelnen an, die bei ihm Rat suchten, heilte Kranke und schlichtete Streitigkeiten. Sein Ruf wuchs; aber er blieb demütig und bescheiden. Seine Art, die Menschen auf sich aufmerksam zu machen, blieb nicht
    unwidersprochen. Ägyptische Mönche drohten, ihn aus ihrer Gemeinschaft und damit aus der Kirche auszuschließen, wenn er nicht von seiner Säule steige. Weil er darauf nicht einging, kamen sie selbst zu ihm, sahen, wie er wirkte, bewunderten

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