Das Hausbuch der Legenden
fand auch Frauen, die dem Kind die Brust gaben und es nährten. Alle aber wunderten sich über den frommen Marinos, den seine Brüder den Eunuchen nannten, und fragten ihn:
»Was ist mit dir geschehen? Wie bist du zu dem Kind
gekommen?« Er aber wollte nicht lügen und antwortete: »Gott allein weiß, was wirklich geschehen ist.« Und Gott führte ihm auch eine Frau zu, die das Kind ganz zu sich nahm, nährte und aufzog. Er setzte mit ihr einen Lohn fest. Dann ging er, um Gott für seine Hilfe zu danken und zu arbeiten. Die Mönche verweigerten jede Hilfe. Aber Marinos nahm die schwersten Entbehrungen geduldig auf sich und sorgte für das Kind.
Nur der Bruder Pförtner leistete immerwährend
Liebesdienste. Er ging auch zum Ältesten der Brüder und bat ihn um eine Fürsprache beim Abt. Er flehte ihn an, sich zu erbarmen und dem verstoßenen Bruder mit dem Knaben einen kleinen Wohnplatz innerhalb der Klostermauern anzuweisen, weil der Knabe draußen ständig von wilden Tieren bedroht sei.
Aber Satan hinderte die Brüder, das zuzulassen. Sie
verabscheuten und haßten den unzüchtigen Genossen, und der Abt verwies dem Torhüter seine Bitte und sagte: »Ich lasse weder ihn noch seinen Knaben unter meine Brüder kommen.«
Darüber vergingen viele Jahre. Marinos blieb hart gegen sich, er war standhaft und klagte nicht. Er bat die Mönche nie um ein Stück Brot oder um eine andere Hilfe, obgleich sein Vater einst sein ganzes Vermögen, viele Goldstücke, eingebracht hatte. Er begnügte sich mit dem, was er mit seinen eigenen Händen erwerben konnte, und nährte sich mit Wasser, Brot und Salz. Als seine Lebensuhr abgelaufen war, bekam Marinos heftiges Fieber. Der Pförtner besuchte ihn. Er lag auf der blanken Erde, einen Stein unter seinem Kopf. Der Torhüter fragte ihn: »O mein Bruder Marinos, was ist mit dir geschehen?« Aber der Sterbende antwortete nur: »Bete für mich, mein Herr Vater! Bete für mich! Ich bin sehr krank. Der einzig wahre Gott, unser Herr Jesus Christus, wird dich belohnen.« Dann starb er. Der Pförtner bat nun bei den Mönchen für den Toten. Sie wollten ihn aber nicht in ihren Friedhof aufnehmen, denn er war so schnell gestorben, daß keiner der Priester ihm die letzten Segnungen hatte bringen können. Der Abt sagte vor dem Konvent: »Seht, wie
schrecklich seine Sünde war! Er hat nicht einmal Buße verdient!« Erst als der Pförtner den Leichnam wusch und fand, daß Marinos ein Weib war, erkannten die Mönche ihr Unrecht.
Bestürzt riefen sie jetzt den Großvater des Knaben, um ihm das Kind zu übergeben. Marina aber wurde wie eine Märtyrerin feierlich bestattet.
Pelagius heißt Margarita
MARGARITA, DIE einzige Erbin einer alten Adelsfamilie, war von ihren Eltern streng erzogen worden. Das schöne Mädchen war scheu gegenüber den Männern und hörte lieber Predigten als Liebeserklärungen. Trotzdem wählten die Eltern unter den zahlreichen Bewerbern einen jungen Mann als Schwiegersohn, der ihr an Adel und Anstand gemäß war. Am Hochzeitstag war die halbe Stadt versammelt, das junge Paar zu feiern und in den Ehestand zu begleiten. Sie aber verweigerte ihrem Gemahl die eheliche Gemeinschaft, empfahl sich dem Herrn und floh noch in derselben Nacht. Sie trug Männerkleider und ließ sich das Haar scheren. Nach vielen Tagen erreichte sie ein Kloster, meldete sich beim Abt als Bruder Pelagius, wurde
aufgenommen und übte sich viele Jahre in klösterlicher Zucht und im Gebet. Als der Vorsteher des Nonnenklosters starb, beschlossen die Ältesten und der Abt, sie an seine Stelle zu setzen. Das geschah aber gegen ihren Willen.
Sie sorgte lange Zeit ohne Tadel für das leibliche und geistige Wohl der Jungfrauen, bis der Teufel endlich einen Weg fand, ihren Seelenfrieden zu stören und ihr den weiteren Verbleib im Kloster unmöglich zu machen. Er verführte eine ihrer Nonnen zur Unzucht. Als ihr Leib dick wurde und die Schande nicht mehr zu verbergen war, traten die Nonnen und Mönche der beiden Klöster zusammen und besprachen die Schmach. Alle hielten Pelagius für den Schuldigen, denn er war der einzige Mann, der als Oberer des Frauenklosters heimlichen Umgang mit den Nonnen haben konnte. Sie verdammten den Mitbruder und verstießen ihn mit Schimpf aus ihrer Mitte. Er wurde in eine Felsenhöhle eingeschlossen und von dem strengsten der Mönche bewacht. Einer brachte täglich ein kleines Gerstenbrot und Wasser. Dort ließen sie den Mitbruder ein ganzes Leben lang allein.
Margarita ertrug
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