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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Raspail
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Blick mit dem von Lydia.
    Nachdem die Gitarristen, ein lächerlicher Haufen, der am Schluß nur noch Spottmusik machte, verschwunden waren, war Lydia ihnen nicht gefolgt. Sie blieb allein unbeweglich mitten auf der Straße stehen. Sie war so perplex, als ob sie die Richtung verloren hätte. Chassal hatte sie erkannt, aber sofort wieder vergessen. Die langen Nächte in den Armen dieser Frau, das Gesicht Lydias der Hostie zugewandt, wenn er sich bei der Weihe über den Altar neigte, all dies hatte es nie gegeben. Pierre Chassal betete. Er wußte nicht, von wem und warum er berufen worden war, aber er fand, daß wenn es Gott gab, Lydia nur geschaffen worden war, um ihn in Versuchung zu führen. Lydia, der Ganges, seine früheren Verirrungen, die Illusion von der Befreiung der Menschen, alles vermischte sich jetzt zu einer ungeheuren Versuchung, die er ganz friedlich abwehrte. Nicht selten lassen verlorene Anlässe, die manchmal schlecht sind oder von der herrschenden Meinung so beurteilt werden, im letzten Augenblick unerwartete Kämpfer aufstehen, die, wenn auch ohne Beweggrund, entschlossen sind und deren Opfer alles Schädliche sühnt und alles rechtfertigt, was man beseitigen wollte. Dann sagt man sich, »vielleicht hatten sie recht?«, aber es ist zu spät, das Rad hat sich gedreht. Die Geschichte ist mit Leichen angefüllt, an die kein Denkmal erinnert und die im Totenreich zweifellos eine andere Welt als die unsrige aufgebaut haben und in der wir uns wie zu Hause fühlen würden, wenn uns nicht der moralische Mut gefehlt hätte …
    »Seid willkommen«, sagte eine Stimme von einem Dach herunter. »Aber wie weit wollen Sie gehen?«
    Auf der Terrasse seiner Villa stand mit gespreizten Beinen und mit in die Seiten gestemmten Fäusten, als ob ihm die Welt gehören würde, Oberst Dragasès und betrachtete den erschöpften kleinen Haufen. Da die Mönche weder stehen blieben oder den Kopf erhoben noch die Soldaten vor ihnen zu bemerken schienen, rief er ihnen zu:
    »Hallo! Vater! Bis zum Strand sind es fünfzig Meter. Wenn sie plötzlich an Land gehen, werden sie euch zertrampeln und wir können nichts für euch tun. Geht nicht mehr weiter. Es wäre Selbstmord!«
    Aber sie marschierten weiter, wie Gespenster. Sie sangen nicht mehr, sie klagten nicht mehr, sie schlichen einfach dahin. Man hörte nicht mal mehr ihre nackten Füße auf dem Straßenkies schlürfen. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und ihre horizontalen Strahlen entflammten das Gold der Hostie, so daß das heilige Sakrament wie eine Feuerkugel aussah. Über dem Meer, dem Strand, den Villen und der Landschaft lag völlige Stille. Scharen von Möwen flogen ohne Gekreisch vorbei. Auf der ebenen Erde kamen Wald- und Feldmäuse, Maulwürfe und Ratten aus ihren Löchern hervor und flüchteten. Alles was an diesem Küstenstrich noch von der Fauna übrig war, nahm nach Norden Reißaus. Es war wie ein spontaner Aufbruch vor dem Brand.
    »Herr Oberst«, sagte Staatssekretär Perret, »was steht in den Militärdienstvorschriften, wenn eine Truppe dem heiligen Sakrament begegnet?«
    »Man macht eine Ehrenbezeugung und läßt ein Trompetensignal blasen: ›Achtung, der General geht vorbei …‹ Heute hat keiner mehr Sinn für Feuerwehrtheater. Jeder kann nach seinem Ermessen handeln, und der Soldat noch mehr als andere. Man kann sich den Finger in die Nase stecken, den Rücken drehen oder niederknien, ganz nach Belieben.«
    »Gut! Ich glaube, ich werde niederknien.«
    »Sie sind die Regierung, Herr Minister«, sagte der Oberst mit lachenden Augen, denn beide standen miteinander auf gutem Fuß, das heißt, sie amüsierten sich. »Sie verkörpern die alleinige Autorität. Die französische Armee gehorcht Ihnen.«
    Dann brüllte er:
    »Alles auf die Knie da drin! Und wer sich noch an das Bekreuzigungszeichen erinnert, soll sich jetzt bekreuzigen. Stillgestanden! Brust raus! Rieht euch! Achtung! Knien!«
    Um die Villa herum und unter den benachbarten Bäumen sanken zwanzig Husaren und ein Hauptmann auf die Knie. Am linken Flügel sprachen ein anderer Hauptmann und sechs Mann des Marinekommandos das Gebet der Fallschirmjäger: »… und gib uns, Herr, alles, was niemand will.« Auf dem rechten Flügel hörte man nichts. Es gab keinen rechten Flügel mehr. Liegengebliebene Gewehre markierten die endgültige Desertion. In einem Dickicht versteckt, zögerte noch ein Leutnant, bekreuzigte sich und floh dann hinter einem riesigen Rudel von Ratten her. Ein Gespenst von einer

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