Das Heerlager der Heiligen
zwischen Grausen und Überraschung hielten die Lieblinge sich die Nase zu und suchten das Weite. Eine gute Sache, die so schlecht riecht, hatten sie nicht vorgesehen. Mangel an Reife. Eine schlechte Sache, die gut riecht, ist, wie jeder weiß, der Fortschritt, der Komfort, das Geld, der Luxus, der Überfluß, die hohe Moral und das ganze Tamtam. Daran hätten sie denken müssen. Oder haben sie vielleicht plötzlich ihren Irrtum erkannt? Als moralisch Verwundete schrien sie nicht nach der Mutter. Diese saubere Mutter jedoch, in der kleinen, weißen Küche der fünften Etage, Treppe K, Bau C des Wohnblocks im Vorort, war ein bürgerliches Bild, das jetzt im Geist vieler wie ein verlorenes Glück auftauchte.
»Was für ein Haufen!« sagte Dragasès. »Sie nehmen uns die Luft weg. Das stinkt, es ist nicht zu glauben.«
Er machte sich mit dem Taschentuch eine Maske, so daß man unter der Mütze nur noch seine ironischen Augen sah. Er wandte sich zum Minister und zu den zwanzig Husaren, die ihr Taschentuch im Genick verknotet hatten und fügte hinzu:
»Wenn Verkleidung einen Mönch ausmacht, dann sind wir jetzt vogelfrei.«
»Diesmal ist die Sache klar«, sagte der Minister. »Wenigstens ein Ergebnis, Warum sich jetzt genieren. Übrigens, Herr Oberst, bin ich neugierig, wie Sie sich da rausziehen wollen. Schauen Sie hin. Es sind derart viele, daß man nicht einmal mehr das Wasser zwischen den Schiffen und dem Strand sieht.«
Man sah auch von den Schiffen nichts mehr. Ihre Wände bewegten sich wie eine Schale in einem Ameisenhaufen. An Tauen, die man an Bord gefunden hatte, an Strickleitern und an Flaschenzügen, die längs der Schiffswände hingen, glitt die Menge ins Wasser. Eine Flut von Körpern deren ununterbrochene Bewegung flüssig zu sein schien. Die Schiffe leerten sich wie eine überlaufende Badewanne. Die Dritte Welt rann herunter, und der Westen diente ihr als Abzugskanal. Rittlings auf den Schultern ihrer großartigen Eltern sitzend, berührten jetzt die Bettler von Kalkutta, alle diese kleinen Mißgeburten der INDIA STAR, als erste die Erde. Sie krochen auf dem feuchten Sand wie Dackel oder wie ungeschickte Seehunde, die ein unbekanntes Ufer erkunden, und stießen fröhliche Rufe aus. Sie glichen Knirpsen, die von einem andern Planeten gekommen waren. Hinter ihnen blieb die Menge noch stehen, denn oben auf der Schiffsbrücke schaute der Zwerg mit der Mütze starren Blickes auf das Ufer, als ob er von seinen schrecklichen Gefährten einen Bericht erwarten würde. Die kleinen Mißgeburten schnupperten, aßen Sand, patschten mit ihren Händen auf den Boden, um sich von der Wirklichkeit zu überzeugen. Nachdem sie offenbar zufrieden waren, schlugen sie mit ihren Stummelbeinen Kapriolen. Das Land gefiel ihnen. Dann drehten sich alle um. Es war wie ein Signal. Ein ungeheueres Geschrei erfaßte die Flotte. Die Flut der Körper neben den Schiffen setzte sich in Bewegung. Einer schob den andern. Die Woge erreichte bald die kleinen Mißgeburten und drängte sie vor sich her.
»Sie sind zu gräßlich«, sagte der Oberst kalt. »Zu unglücklich, zu bejammernswert. Zu erschreckend in ihrem Elend. Wir müssen das Elend töten. Unter solchen Umständen ist es unerträglich. So etwas darf nicht zugelassen werden … Herr Hauptmann!«
Er wandte sich an den Offizier auf dem Dach, der neben seinem Maschinengewehr kauerte.
»Sie werden doch nicht da hineinschießen!« sagte der Staatssekretär.
»Doch! Genau da hinein! Ich hasse dieses Scheusal, das da an der Spitze wie eine Fahne marschiert. Ich werde wenigstens diese Fahne vernichten.«
»Aber das bringt doch nichts!«
»Gewiß. Aber wenn schon das Schicksal besiegelt ist, dann muß man trotzdem noch etwas Ordnung schaffen. Wir sind nur noch ein Symbol, und auf diese symbolischen Mißgestalten werde ich eine symbolische Salve schießen. Sterben dabei welche, um so besser. Dann weiß wenigstens ich, Konstantin Dragasès, warum. Los, Herr Hauptmann! Wenn Sie noch ein Gewissen haben, dann ist jetzt der Augenblick gekommen, sich darüber hinwegzusetzen. Schießen Sie! Verdammt noch mal!«
Das Maschinengewehr gab einen langen Feuerstoß ab, wie bei Zielübungen, dann schwieg es. Nichts ist schrecklicher als der Todeskampf bei Mißgestalten oder geistig Behinderten. Es sind körperliche Karikaturen, die leiden, stumpfsinnige Blicke, die zu begreifen versuchen. Das Blut fließt aus Wunden eines anormalen Fleisches. Die Klagen solcher Sterbenden sind nicht mehr menschlich.
Weitere Kostenlose Bücher