Das Heerlager der Heiligen
Indianer in den Anden, ein Neger im Tschad oder ein Pakistani im Elend umkommen, da muß den Westen die Reue packen. Diejenigen, die ihn dazu drängen, kennen ihn. Sie verlangen nicht einmal, daß er in den Geldbeutel greift und vier Fünftel des Globus adoptiert, die undeutlich in seinem Schlepptau schwimmen. Man zielt auf den Kopf, das ist alles, auf entfernte Gehirnzellen, von wo aus Gewissensbisse, Selbstanklage und der Ekel vor sich selbst, durch tausend Stiche gereizt, hervortreten und sich in einem gesunden Körper ausbreiten, wie wenn er plötzlich von der Leukämie befallen wäre. Es ist unerträglich! … Sicher! Das ist nicht zu ertragen! Welche Frage! Der Minister erstickt beinahe daran.
»Meine Herren, wir müssen uns weltweit solidarisch Gedanken machen. Und da es sich hier mehr um eine Herzensangelegenheit als um eine Verstandessache handelt, so werden Sie zugeben, daß wir ›erzittern‹ müßten, wenn ich so sagen darf. Mit dem Auszug dieser Flotte ist eine Million Menschen von ihrem Ursprungsland getrennt. Wir werden uns hüten, sie zu verurteilen. Auf der Suche nach einem gelobten Land irren sie heimatlos umher. Man kann sie doch als Weltbürger ansehen? Die französische Regierung hat ihren westlichen Partnern die Schaffung einer internationalen Kommission vorgeschlagen, die beauftragt wird, dieser Flotte sofort Hilfe und Lebensmittel zu bringen. Wie auch die Meinung über den Ausgang dieses außergewöhnlichen und verzweifelten Abenteuers sein mag, es ist Pflicht, still zu sein und zu sagen: Diese Menschen sind auch unsere Brüder!«
»Unverbesserlich«, dachte der Präsident. »Er liefert sogar mit einem Strich der Presse die Schlagzeilen! Alte Hure!«
An den Farbfernsehgeräten in ihren Büros hörten auch die meisten Chefs der französischen Schiffahrtsgesellschaften diese Pressekonferenz. Es gehört zu ihrem Beruf, daß sie am Meer und an allem, was den raschen und rentablen Weg ihrer Schiffe verzögern könnte, interessiert sind. Ihre ablehnende Reaktion verdient beachtet zu werden. Sie riefen sich gegenseitig an, und von allen Hochantennen auf den Dächern ihrer Firmensitze gingen verschlüsselte Nachrichten an ihre Schiffe, die im Indischen Ozean kreuzten: »… Befehl, Ihren Reiseweg entsprechend zu ändern, so daß er sich unbeschadet der Umstände in keinem Fall dem der Emigrantenflotte nähert. Deren vermutliche Position liegt wie folgt …« Es gab keinen Kapitän, der nach Empfang dieses Befehls nicht begriffen hätte, daß diese angeordnete Flucht eine Gewissensflucht war. Man wollte sie schützen, und sie gehorchten bereitwillig. Als Seeleute konnten sie das Unmögliche beurteilen und das Unlösbare abmessen. Wenn ein Taifun diese Flotte alter Kästen packen würde und auf dem Meer eine Million Ausgehungerter dem Tod ausgeliefert wäre, so würden alle Schiffe des Westens, auch wenn sie wie durch ein Wunder beisammen wären, nicht ausreichen, um auch nur ein Hundertstel dieser Menschen retten zu können, und wenn schon, um welchen Preis! Unterbrechung jedes Handelsverkehrs, Demoralisierung der Menschen angesichts der umherschwimmenden Leichen, Umwandlung schöner Handelsschiffe in Lazarettschiffe, die zeitweise als Krankentransporter herumirren. Im Namen des Lebens? Kaum. Im Namen des Todes. Im Namen eines Todes, der in das westliche Mark eindringt.
Die englischen, deutschen, italienischen und die andern Gesellschaften erließen gleichlautende Befehle. Von diesem Tag an fuhr die Emigrantenflotte auf einem ausgestorbenen Meer. Kein Rauch am Horizont ließ auf Menschen schließen. Kein Herz schlug. Auf die Ermahnungen des Ministers war dies die erste Antwort. Da sie im Namen der Menschenwürde geheimgehalten wurde, hatte sie nur wenig Einfluß auf den Lauf der Dinge …
»Herr Minister«, fragte ein Journalist, »muß man annehmen, daß Sie eine Zensur verhängen?«
»Ei, Herr Machefer! Fürchten Sie nicht, sich lächerlich zu machen? Wer erlaubt Ihnen, derartige Extravaganzen zu behaupten?«
Solche Ausfälle zwischen dem Minister und dem Journalisten war man gewohnt. Das brachte Abwechslung, und manchmal amüsierten sie sich dabei. Aber an diesem Tag haßten sie sich offenbar. Es kommt immer ein Augenblick, wo man sich mit seinesgleichen mißt.
»Sie selbst, Herr Minister! Sie sagten, es sei Pflicht, die Meinung, die man bezüglich der Folgen dieses Abenteuers hat, zu verschweigen. Haben Sie da nicht eine Art Selbstzensur im Auge? Einerseits das gute Gewissen, andererseits
Weitere Kostenlose Bücher