Das Heerlager der Heiligen
unserer Nächstenliebe zu stärken. Die göttlichen Absichten sind klar. Wenn wir nicht alles geben, ist es, als ob wir nichts gegeben haben. Unsere christliche Pflicht ist vorgezeichnet, aber andere verstehen dies nicht. Man muß manche Wahrheiten verschweigen, weil sie in Wirklichkeit von Gott gewollte Erscheinungen sind, damit wir unser Heil verdienen …‹ War dies nicht ein Geschwätz? Ich bin seitdem sprachlos. Bevor er uns am nächsten Morgen verließ, hat er uns noch eine Moralpredigt gehalten. Ich bin sicher, daß sie jedermann wie gutes Brot verschlungen hat! Göttliche Absichten! Es fragt sich, wer auf Erden oder im Jenseits ihm solches eingeflüstert hat? Verstehen Sie, daß ich dies erst nach und nach begriffen habe? Aber noch fehlte mir im Puzzle ein Stück. Gestern früh habe ich in Rossy den kleinen Agnellu auf die Seite genommen. Ich sagte zu ihm: ›Mein Vater! Und das hübsche Geschenk, das Sie in Empfang nehmen mußten? Diese weiße nackte Leiche mit dem großen blonden Bart?‹ Das hat ihm einen Schock verpaßt. Ich wußte, wovon ich sprach. Ich habe von der Schiffsmitte aus mit einem ausgezeichneten Fernglas zugeschaut. Aber er hatte sich schnell gefaßt. ›Sie haben Visionen, Herr Herzog! So etwas ist nicht vorgekommen, das kann ich Ihnen versichern.‹ Soso! Mit offenem Gesicht, wie einer, der es faustdick hinter den Ohren hat. Ich habe ihn dann gefragt: ›Können Sie das beschwören?‹ Ich glaubte, ihn gefaßt zu haben. Aber nein! ›Ich will Ihnen gern Ihre Kapriolen verzeihen, Herr Herzog, es ist das Vorrecht Ihres Alters. Ich schwöre es Ihnen freiwillig.‹ Nun gut! Aber die Leiche, Herr Machefer, habe ich ein zweites Mal gesehen. In der Nacht, am Ende des Strands. Dort wurde sie beerdigt. Agnellu hat irgend etwas in den Bart gemurmelt, hat das Grab gesegnet, und alle haben sich eiligst aus dem Staub gemacht. Ich bin zum Grab gegangen. Sie hatten es gut versteckt. Ich bin kein Luder. Ich habe kurz gebetet und bin dann auch gegangen. Was ich um diese Stunde dort gemacht habe? Ich habe, ganz schlicht gesagt, gepinkelt, denn in meinem Alter stehe ich nachts oft auf. Diesmal verhalf es mir zum letzten Stück im Puzzle: Dieser Priester, ein echter Dominikaner, log wissentlich! Seitdem ziehe ich laufend Vergleiche. Unter den vielen Priestern, die vom Weg abkommen und uns irreleiten, wieviele lügen da freiwillig? Herr Machefer, ich habe Angst …!«
»Kinder!« sagte Machefer zu seiner jungen Belegschaft, »schreibt die Erzählung des Herrn von Uras auf. Fragt ihn aus, denn er ist deshalb gekommen. Ich möchte einen klaren Text ohne Verzierung. Wir werden davon hunderttausend Exemplare drucken lassen …«
»Hunderttausend!« posaunte kurz darauf der Chef der Druckerei von »La Grenouille«. »Wie wollen Sie das bezahlen? Ich habe strenge Anweisungen.«
»Im voraus!« erwiderte Machefer.
Er zog einen Beutel aus der Tasche. Die hunderttausend Exemplare wurden wie früher auch durch Ausrufer verkauft. Es war nicht viel, aber immerhin ein Anfang. Machefer faßte Vertrauen. Am nächsten Tag erschien der zweite Teil des Berichts, diesmal mit einer schockierenden Überschrift: »Weißer ermordet, von der KALKUTTA STAR ins Wasser geworfen! Aus Versehen? Rassenhaß!«
Eine Viertelstunde später standen die Rotationsmaschinen von »La Grenouille« still. Machefer, den man benachrichtigte, kam herunter.
»Was ist los? Was geht hier vor? Sie arbeiten nicht mehr?«
»Ich bedaure, Herr Machefer, überraschender Streik«, sagte der Werkmeister.
»Streik? Wirklich?« sagte Machefer.
Er ging von einem Arbeiter zum andern und bohrte seinen Blick in jedes Auge. Alle blieben stumm und unbeweglich. Keiner gab Auskunft.
»Aber Ihr arbeitet ja gegen eure eigenen Interessen, blöde Kerle! Habt Ihr meinen Artikel nicht gelesen? Dann versteht Ihr auch nichts.«
»Es ist Streik!« sagte nochmals der Werkmeister. »Entschuldigen Sie uns. Sie kennen ja die Gewerkschaftsbestimmungen.«
»Wo ist Euere Gewerkschaft? Im zweiten Stock? Im Büro der Direktion?«
»Es ist Streik, und dabei bleibt‘s«, wiederholte der Werkmeister. »Beklagen Sie sich nicht, Sie haben Ihre zehntausend Exemplare, wie jeden Tag. Was wollen Sie mehr?«
»Und morgen?«
»Morgen ist es das gleiche. Die Gewerkschaft Druck der Belegschaft von ›La Grenouille‹ hat beschlossen, immer nach zehntausendeins Exemplaren Ihrer Zeitung zu streiken.«
»Dazu haben Sie kein Recht. Das ist ein politischer Streik.«
»Politisch? Keineswegs.
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