Das Heerlager der Heiligen
Bevor wir diese große Familie bei uns in unserer viel zu kleinen Wohnung aufnehmen, müßte man ihr begreiflich machen, daß die Urlaubszeit mit Kost und Logis noch nicht da ist und sie wieder in ihr Land zurück muß, damit wir einen besseren Empfang organisieren können, wie man ihn von unserer glücklichen Bevölkerung erwartet. Ein Empfang etwa in dieser Größe bereitet sich schon vor. Wir hatten nur noch keine Zeit gehabt, da … hm … wir niemand eingeladen haben. Ich schlage vor, wir formulieren innerhalb einer passenden Frist eine feierliche Einladung, die wir mit allen interessierten Regierungen hier wie außerhalb abstimmen. (Da der Engländer Großbritannien bei der Dauerkonferenz für atomare Abrüstung vertrat, wußte er, was das Wort Frist bedeutet.) Aber da wir eine bessere Gelegenheit abwarten wollen, die wir sehr herbeiwünschen, so soll die Gangesflotte gebeten werden, nach Hause zu fahren. Durch den Suezkanal über den Indischen Ozean ist der Weg nicht sehr weit. Selbstverständlich werden wir ihr mit allen unseren Kräften helfen! Verpflegung, Begleitung, Gesundheitsdienst, technische Hilfe, Ersatz unbrauchbar gewordener Schiffe durch eigene Transportschiffe ist nur eine Frage unserer Rührigkeit …«
Man war einverstanden. Etliche Regierungen, vor allem die bedrohtesten wie Spanien oder Frankreich, waren im stillen bestürzt. Bis Senegal hatte man noch auf einen Schiffbruch hoffen können, eine Schicksalsfügung, welche die Öffentlichkeit weinend aufgenommen hätte, mit anschließenden Gedächtnisfeiern, mit einer Luftbrücke zwecks Heimführung der Überlebenden und mit dem Versprechen einer verstärkten Hilfeleistung. Es hätten sich noch einige Zeit lang Gewissensbisse geregt, dann wäre das Leben weitergegangen … Aber dieses unglaublich ruhige Meer Tag für Tag, diese meteorologisch einmalige Erscheinung in der Meereskunde machten jede Illusion zunichte! Bald wird die Gangesflotte alles Gerede widerlegen, und es wird ein unerschwinglicher Preis bezahlt werden müssen, es sei denn …
»Es geht nur darum«, fuhr der englische Delegierte fort, »unsere Gäste zu überzeugen. Gestatten Sie mir einen Vergleich. Wenn bei uns in den englischen Schulen der guten Gesellschaft ein tobendes Kind nicht folgsam sein wollte, wendete man ein kräftiges Mittel an. Wie oft hat man mich als Kind dadurch auf den rechten Weg gebracht, daß man mich an den Ohren zog! Mangels anderem schlage ich gegebenenfalls vor, eben ein kräftiges Mittel anzuwenden.«
Jetzt war man endlich soweit. Aber auf welch scheinheiligen Umwegen! Die weiße Rasse wird an dem Tag verdammt sein, wo sie, sei es auch mit leiser Stimme und in eigenem Interesse, auf die gebotene Offenheit verzichtet. An diesem Tag wird die Morgendämmerung des Untergangs anbrechen.
Ein Delegierter fragte: »Was heißt das in unserem Fall? An den Ohren ziehen?« Der Engländer hustete nicht mehr.
»Man hält die Gangesschiffe zur Überprüfung an, notfalls mit Waffengewalt, und bewaffnete Einheiten holen, gegebenenfalls gewaltsam, die Menschen von den Schiffen herunter.«
»Und wenn die Kinder sich nicht an den Ohren ziehen lassen?« sagte der französische Delegierte. »Wenn sie sich geschlossen auf den Gegner stürzen und ihn niederzuschlagen versuchen? Darf der Gegner zum Revolver greifen?«
»Wahrscheinlich«, erwiderte der Engländer.
»Und wenn der Gegner nicht den Mut aufbringt, Kinder zu verletzen?«
Langes Schweigen.
»Ich sage nicht, daß so etwas möglich ist«, meinte der Engländer. »Ich sage, daß man es versuchen muß. Wenn wir den Versuch nicht schon jetzt proben, wissen wir in einer Woche nicht, zu was wir noch fähig sind.«
»Wer wird den Versuch probieren?«
»Großbritannien wünscht ihn nicht. Ich bin ermächtigt, Ihnen unsern Vorschlag zu unterbreiten, aber die besonderen Beziehungen, die wir traditionsgemäß zu den Regierungen am Ganges, mit Indien, Bengalen und Pakistan unterhalten …«
Ein anderer Delegierter sagte: »Italien muß mit der Ansicht Seiner Heiligkeit des Papstes rechnen …«
Es erübrigt sich, auf die Einzelheiten der chiffrierten und fieberhaft ausgetauschten Telegramme zwischen der Kommission von Rom und den westlichen Regierungen einzugehen. In Frankreich faßte der Präsident der Republik einen ebenso geheimen wie schnellen Entschluß. Nur der Stabschef der Marine und Staatssekretär Jean Perret wurden unterrichtet. Um die Gründe dieser Verschwörung genau zu verstehen, muß man den Rat der
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