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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Raspail
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Ausgehungerte Gesichter, nur noch Haut und Knochen, mit Blicken wie im Trancezustand oder apathisch. Von Zeit zu Zeit eine große Gestalt mit edlen Zügen, die aus der Menge herausragte. Sie saß auf ihren Unterschenkeln und betrachtete uns ruhig, wobei sie sich blutig kratzte. Neben mir hörte ich den wachhabenden Offizier murmeln. ›Entkleidete Spartakusse …‹ Entkleidet waren sie alle. Aber keine ganz nackten Körper. Keine Schaustellung, kein Sonnenbad. Keine Scham, aber auch keine Unanständigkeit, kein Exhibitionismus. Es war etwas wie das Ergebnis eines tausendjahrealten armseligen Zusammenlebens. Dann wieder ein schwarzer entblößter Busen, der über die Brücke baumelte, wenn die Alte sich beugte. Ein eitriger Verband, der verrutscht war und ein zerfressenes Knie freilegte. Schultern ohne Alter. War es ein Greis oder ein Knabe? Zwei Gestelle mit vorspringenden Knochen. Knaben oder Mädchen? Aber da pißten sie. Es war ein Knabe und ein Mädchen. Ihre Gesichter waren schön. Sie lächelten sich zu und legten sich wieder hin. Eine Frau bewegte sich durch die Menge. Ihre großen Brüste waren kaum zu sehen. Sie war eine Zwergin. Dann wieder zwei rachitische Schenkel, wie Wurzeln. Dieser Typ saß auf dem Boden. Ich entsinne mich, daß ich mich beim Anblick gefragt habe, ob er wohl seit der Gangesmündung so dagesessen ist, ohne sich zu rühren. Eine andere liegende Frau, die den Himmel betrachtete, ohne zu blinzeln. Sie war tot. Ich weiß es genau. Als wir nämlich dieses Schiff bestiegen, haben gerade zwei Männer sie an den Armen und Beinen gepackt und ohne Zeremonie über Bord geworfen. Sie kann nicht schwer gewesen sein. Ich sah, wie meine Bretonen auf der Kommandobrücke sich bekreuzigten. Und dann Sex und Hintern, viel Sex. Ich erinnere mich an diese junge Frau, die in ihren dichten, schwarzen Mähnen, ich weiß nicht was suchte. Vermutlich Läuse. Sprechen wir nicht von all denen, die auf ihren Fersen hockten, mit hochgezogener Tunika und freiem Hintern. Für sie existierten wir nicht. Ich glaube übrigens, daß wir für niemand existierten. Es gab auch tadellose Körper in großer Zahl, von denen ich einzelne flüchtig gesehen habe. Da konnte man wirklich nicht von Grausen sprechen. Vielleicht war da die Schönheit, die aus soviel Schmutz auftauchte, ergreifender, weil sie von einem Nimbus umgeben war. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Auf der KALKUTTA STAR, fast an der Spitze des Konvois, war vorne abgesondert von der liegenden Menge, ein herrlicher nackter Rücken, von einer blendenden Schwärze, von langen fächerartig ausgebreiteten Haaren bedeckt, mit einer um die Hüften geschlungenen Tunika. Die Tunika fiel herunter und das Mädchen drehte sich um, um sie aufzuheben. Ich denke, daß es eine Art Spiel war, denn neben ihr stand eine häßliche, kleine Mißgeburt, die lachte. Das Mädchen hat sich dann erhoben, und fünf Sekunden später hatte es sich vollständig mit diesem weißen Tuch eingehüllt gehabt. Aber in den fünf Sekunden habe ich meine Blicke nicht von dieser schönsten Frau abgewandt, die ich je bewundern konnte. Sie war auch die einzige unter den Tausenden von Menschen, die mich angeschaut hat, wenn auch nur für einen Augenblick. Aber nach ihrem Gesichtsausdruck hätte ich es tausendmal lieber gehabt, wenn sie sich nicht umgedreht hätte…
    Insgesamt war der Eindruck noch stärker, noch tiefer und auch unheimlicher. Ich weiß nicht, was ich da sagen soll. Man kommt immer wieder auf die gleichen Worte zurück. Die Massen, der Schmutz, das Elend, das Schreckensbild, der Sexjahrmarkt, das jammervolle Gewimmel, die üppige Schönheit. Wenn man sagen würde, da sei eine andere Welt an uns vorbeigezogen, so sagt das nichts. Ich glaube, wir waren nicht einmal mehr fähig, ein Urteil abzugeben … Wenn da noch einer auf seinen Kommandanten hören soll, ob Berufssoldat oder nicht, Herr Präsident, Sie können sich leicht die Verwirrung vorstellen. Hier habe ich ein paar Fotos. Sie wurden an Bord entwickelt. Wollen Sie sie betrachten?«
    Schnell überflog der Präsident die etwa zwanzig Stück. Dann sagte er: »Leider ist die Studentenzeit vorbei! Ich werde dies alles einem Motorradfahrer der Nationalgarde übergeben, damit er es in meinem Auftrag mit einem Begleitschreiben unserm Freund Jean Orelle bringt. Ich werde schreiben: ›Das sind Ihre Gäste. Ich hoffe, daß Sie sich freuen, dieselben bei sich in der Provence aufnehmen zu können‹ oder so ähnlich … Sieh mal

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