Das Heerlager der Heiligen
mager und ausgehungert, aber sonst wohlauf sind; sie werden stark genug sein, um das Ufer zu erreichen. Die Toten der letzten Tage dagegen werden nach dem Stranden der Flotte von den Wogen sanft an die Küste ins Paradies getragen werden. In den Augen ihrer lebenden Gefährten werden sie nichts Wesentliches verloren haben, denn nach ihrer Vorstellung bedeutet der Tod wenig, wenn das Ziel erreicht ist.
An Bord der Flotte blieb nur ein einziger Weißer zurück. Er wurde wahrscheinlich wegen seiner Krankheit, aber auch wegen seiner Vergangenheit ausgespart. Er hatte sein ganzes Leben im Dienst der Nächstenliebe bei einer Bevölkerung zugebracht, die gelernt hatte, ihm zu vertrauen, ja sogar zu lieben. Auf der Brücke der KALKUTTA STAR, wo er die schönste Zeit im Schatten eines Kamins verbrachte, kannte ihn jeder. Seine Verrücktheit und Selbsterniedrigung hatten, da sie progressiv waren, sein Ansehen in den Augen derer, die sich mit ihm eingeschifft hatten, nicht erschüttern können. Aber wer hätte auch in diesem halb nackten, in schmutzige Lumpen gehüllten, irren Sadhu den Mann erkennen können, der noch vor zwei Monaten Monsignore, katholischer Bischof und apostolischer Legat vom Ganges war. Es fiel ihm selbst schwer, sich noch daran zu erinnern. Gelegentlich wandte er sich auf seiner elenden Schlafstelle um und segnete die um ihn Herumstehenden. Die Menge lachte. Einige seiner alten Anhänger lachten auch, schlugen aber ihm zu Gefallen das Kreuz. Dann legte er sich wieder hin. Mit dem Rest seines Verstandes grübelte er über die seltsamen lateinischen Silben nach, die er in einer Blutlache am Kai des Ganges zu lesen geglaubt hatte. Sonst fehlte es ihm an nichts. Man brachte ihm zu essen und zu trinken. Liebe Kinder leisteten ihm Gesellschaft. Sie waren um seine Ernährung besorgt, aus Furcht, er könnte sterben. Wenn man ihn vergessen hatte, brachten sie ihm irgendwelche Reste. Im Lauf der Zeit wurde dieser Verwirrte ruhig und sogar glücklich, so als ob ein mysteriöses Etwas ihn aufrichten und besänftigen würde. Manchmal sprach er morgens lange vor sich hin. Bruchstücke eines Breviers oder Verse aus der Veda; denn er war ein heiliger, toleranter Mann, der stets betonte, daß die Wahrheit nicht nur eine Offenbarung sein kann. Und nachts, wenn auf der Brücke bei der feuchten Hitze alles schlief, krochen alte Frauen zu ihm hin. Durch eine offene Falte seiner Lumpen griff eine Hand sachte nach seinem Glied und streichelte es langsam, bis es steif wurde und die Ejakulation zwischen die Finger eines Schattens lief. So wurde Glück gespendet und Glück empfangen. Indien ist damit verschwenderisch, und die alten Frauen hielten es für ganz natürlich, daß der arme Mann schließlich auch seinen Teil abbekam. Eine Alte ging. Eine andere kam später in der Stille und Dunkelheit wieder. Dies geschah so oft, daß schon in der Dämmerung, wenn die Nacht einbrach, der wirre Bischof erregt wurde. Der Lingam des Bischofs wurde Gesprächsstoff an Bord, dann Gegenstand der Neugierde und schließlich der Verehrung. Man näherte sich ihm schwarenweise, um den Vorgang im Sternenlicht in nächster Nähe feststellen zu können. Es war wie in diesen geheimen Tempeln, wo steinerne Lingams seit Jahrhunderten von der Menge verehrt werden.
Als die Flotte durch die Meerenge von Gibraltar fuhr, war der Bischof vom Ganges ein heiliger Mann geworden. Zum zweiten Mal im Lauf seines Lebens. Auf daß Gottes Wille geschehe …
30.
Am Ende des Karfreitagnachmittag erschien Jean Perret, Staatssekretär im Außenministerium und persönlicher Berater des Präsidenten der Republik, im Elysée-Palast. Er wurde sofort dem Präsidenten gemeldet. Dieser war in seinem Büro allein. Offensichtlich tat er nichts anderes, als eine Zigarre rauchen und genüßlich einen leichten Whisky trinken. Auf einem niederen Tisch neben ihm häuften sich die Telegramme, die ein Adjutant jede Viertelstunde brachte. Etliche Stellen darin waren rot unterstrichen. Auf dem gleichen Tisch ertönte aus einem Radio gedämpft das Requiem von Mozart.
»Setzen Sie sich, Herr Perret«, sagte der Präsident. »Man könnte meinen, daß die Zeit drängt und die Minuten gezählt seien, in denen wir Tausende von Entscheidungen zu treffen haben. Wenn ich auf die bestürzten und hochgradig nervösen Mitglieder meines Kabinetts hören winde, so müßte ich mich nur noch damit beschäftigen, ohne zu merken, wie die Zeit verrinnt. Aber so ist es nicht. Ein einziger Entschluß
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