Das Heerlager der Heiligen
Stimme des alten Ministers schien zwar sicher zu sein, klang aber gedämpft, als ob er nur mühsam gegen eine große Müdigkeit ankämpfen würde), hat die Regierung für den vorläufigen Empfang der Einwanderer eine Anzahl Maßnahmen getroffen. Die vier Küstendepartements wurden Herrn Jean Perret, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, unterstellt, der zum persönlichen Beauftragten des Präsidenten der Republik ernannt wurde. Im Bedarfsfall wird die Regierung nicht zögern, den Notstand auszurufen. Teile der Armee und der Gendarmerie haben Befehl erhalten, längs der Küste einen Sicherheitsgürtel zu errichten und sich jeder unkontrollierten Landung zu widersetzen, die das Gleichgewicht einer unserer blühendsten Provinzen stören könnte. Die Regierung versichert feierlich, daß gegenüber diesem völlig neuen Problem notfalls menschliche Lösungen vorgesehen sind. Der Präsident der Republik bestätigt erneut, daß er den zahlreichen Stimmen in der Öffentlichkeit, die ihre Solidarität mit den Einwanderern bekundet haben, Rechnung tragen wird. Aber er warnt auch vor gewissen Exzessen, die mit der Aufrechterhaltung der Ordnung nicht vereinbar sind. Privatinitiativen werden nicht geduldet. Im übrigen fordert er die Bevölkerung im Süden auf, Ruhe zu bewahren, ihrer üblichen Tätigkeit nachzugehen und der Regierung zu vertrauen …‹«
»Als er mich soeben verlassen hat«, bemerkte der Präsident, »glaubte er schon mein mehr daran. Wir haben gegen sechzehn Uhr das Kommuniqué gemeinsam aufgesetzt. Sicher, es geht alles schnell! Alles läuft genau ab. Wie beim Einsturz dieses Hauses, den ein italienischer Schriftsteller, ich glaube, es war Buzzati, jüngst beschrieben hatte. Irgendeiner rei ßt, ohne aufzupassen, eine Klappe auf, und das ganze Haus fällt Stück um Stück zusammen. Man könnte sagen, die Ausgehungerten haben soeben die Klappe aufgerissen. Buzzati selbst gab keine Erklärung dazu. Er stellte nur fest. Ich fürchte, wir können auch nicht mehr tun …«
Die Stimme des Journalisten fuhr fort:
»Die Erklärung des Informationsministers fand um siebzehn Uhr statt. Aber seitdem hat sich die Flucht verstärkt. Sie nimmt die Form einer Massenauswanderung an. Daneben kann man auch eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung, nach Süden, feststellen. Sie ist aber andersartig. Hippies und christliche Gemeinschaften, organisierte Banden aus den Pariser Vororten, Gruppen junger Metallarbeiter, Studentenvereinigungen verschiedener Richtungen, sowie zahlreiche Kleriker und gewaltlose Kämpfer befinden sich auf der Straße nach Süden. Um neunzehn Uhr gab es einen schweren Zusammenstoß zwischen diesen Gruppen und der Polizei bei der Autobahnzahlstelle 3 der A 6. Clément Dio, der Chefredakteur der Zeitung ›La Pensée Nouvelle‹ erklärte, er wolle gegen solche Behinderungen durch die Polizei feierlichen Protest einlegen. Er werde, um ein Beispiel zu geben, auch nach Süden reisen. Wir bringen nachstehend, was er vor den Büros von ›La Pensée Nouvelle‹, kurz bevor er in den Wagen stieg, unserem Reporter gesagt hat.«
Man hörte im Funk die Stimme Dios im Straßenlärm und zahlreiche Beifallskundgebungen.
»Der Süden unseres Landes entvölkert sich. Im Grunde genommen wundert uns das nicht. Die westliche Öffentlichkeit hat Gewissensbisse. Sie kann den Anblick des sich nähernden Elends nicht ertragen und flieht lieber leise davon, statt großzügig die Arme zu öffnen. Was soll‘s! Da sich unsere Departements im Süden plötzlich in Einöden verwandeln, so werden eben wir dort sein, um die Unglücklichen der Armada aufzunehmen und ihnen die letzte Chance anbieten. Ich sage es offen: Nur zu diesem Zweck verlasse ich die Hauptstadt und fahre in den Süden. Ich lade alle ein, die wie ich der Ansicht sind, daß das menschliche Ideal über den Staaten, Wirtschaftssystemen, Religionen und Rassen steht. Kommt zahlreich in den Süden. Denn was soll diese Truppenbewegung bedeuten und dieser soeben ernannte Gauleiter Perret. Wie alle, so habe auch ich den Informationsminister von Empfang sprechen gehört … von vorläufiger Lösung … von Sicherheitsgürtel. Dies ist nichts anderes als eine militärische Front. Gibt man etwa unsern Soldaten Schießbefehl gegen Ausgehungerte? Macht man Konzentrationslager auf? Macht man …«
»Er macht mich müde«, sagte der Präsident und stellte das Radio leiser. »Aber«, fügte er nachdenklich hinzu, »er weiß wenigstens, was er will!«
»Wer hat eigentlich
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