Das Heerlager der Heiligen
wird genügen. Bis dahin hat es noch Zeit. Ich glaube, daß es in der Weltgeschichte schon viele Staatsoberhäupter gegeben hat, die ähnliches erlebt haben und ruhig und unbelastet waren, wenn sie das schicksalschwere Wort Krieg aussprechen mußten. Dieses entscheidet über so viele Schicksale, daß die Bedeutung letzten Endes mehr auf philosophischer als auf moralischer und materieller Ebene liegt. Es gibt nichts Nüchterneres als dieses Wort, wenn man das Wesentliche erfaßt hat.
Wir haben also noch Zeit. Hören wir jetzt gemeinsam die Nachrichten. Sie werden sicher weder Ihnen noch mir etwas Neues bringen. (Mit einer lässigen Handbewegung zeigte er auf die Telegramme neben sich.) Ich wurde mich gern mal in die Haut eines Durchschnittsbürgers versetzen, dem nach sechs Wochen langem Humanitätsgefasel plötzlich klar wird, «laß sein Osterwochenende völlig zerstört ist und vermutlich auch die kommenden Wochenende bedroht sind und daß das Leben überhaupt nie mehr so wie vorher sein wird. Auch ich möchte einen Schock erleiden, wie der unsicherste meiner Wähler. Da ich mich am Sonntag oder kurz danach an das Volk wenden muß, werde ich hoffentlich den richtigen Ton finden. Sie hören, seit heute morgen ist Mozart gefragt. Das bedeutet, daß Jean Orelle offenbar begriffen hat. Ein herrlicher Besitz im Süden, am Rand des Meeres, ist eben etwas, was zum Nachdenken zwingt. Wir wollen gerecht sein. Er war vor kurzem bei mir. Er ist ein gebrochener Mann.«
»Ich bin ihm im grauen Salon begegnet, Herr Präsident. Wir haben kurz miteinander gesprochen. Ich kannte ihn nicht wieder. ›Verrückte Einfälle‹, sagte er. ›Albern! Allgemeine Mobilmachung ohne Waffen! Mit Frauen und Kindern! Friedliche Bataillone nach dem Süden schicken! Ein gewaltloser Krieg!‹ Er fantasierte.«
»Ein armer, vornehmer Partisan!« sagte der Präsident. »Versetzen Sie sich in seine Lage. Ein Kämpfer und Ästhet zugleich. Sobald irgendein Befreiungskrieg ausbrach, setzte er sich ab. Fünfzig Jahre lang hat er gekämpft, und oft mutig, obwohl man ihm besondere Posten immer mehr versagt hat. Ein Nobelpreis zu Lebzeiten ist nützlicher als hinterher. Er wurde immer berühmter. Er schrieb wunderbare Bücher und fing an, die Salons zu erobern. Er sammelte Meisterwerke und fand bevorzugte Aufnahme in den Schlössern seiner Freunde. Ein erträumter Ausgleich, bei dem er aufblühte. Jetzt merkte er, daß die Welt sich verändert hat und das alte Spiel nicht mehr möglich ist. Der Partisan möchte dem Ästheten nicht den Hals umdrehen. Am Ende seines Lebens hat er erkannt, was wichtig ist. Im Gegensatz zu den meisten Leuten glaube ich, daß der Mensch im Alter endlich vollkommen wird, wenn er nämlich betrübt die Wahrheit entdeckt. Bei Jean Orelle hat sich dies jetzt gezeigt. Ich habe vorhin einen sehr traurigen, aber aufrichtigen Mann verlassen, der um alles herumgegangen ist. Daher sicher dieses Requiem. Da er jetzt ganz Europäer geworden ist, nachdem er die Ätherwellen vergiftet hat, kann man ihm vertrauen. Er wird das Gesicht wahren. Berlin ist unter den Klängen Wagners zugrunde gegangen. Bei Orelle wird dies feiner vonstatten gehen …«
In der nun folgenden Stille hörte man eine schwache Stimme: »Neunzehn Uhr neunundfünfzig Minuten und dreißig Sekunden …« Der Präsident erhöhte die Lautstärke des Radios.
»Zwanzig Uhr. Hier ist der französische Rundfunk und das französische Fernsehen. Sie hören Nachrichten. Nach letzten ziemlich widersprüchlichen Nachrichten, die uns aus verschiedenen Ländern der Dritten Welt zugingen, scheinen sich weitere Emigrantenflotten vorzubereiten. Die Regierungen dieser Länder erklären sich außerstande, die offensichtlich spontanen Bewegungen zu kontrollieren. In Djakarta, der Hauptstadt Indonesiens, hat eine große Menschenmenge den Hafen und zahlreiche ausländische Schiffe friedlich besetzt. Die Regierung von Australien, ein westliches Land, das Indonesien am nächsten liegt, hat eine Erklärung veröffentlicht, wonach, wir zitieren, ›die Lage insgesamt als äußerst ernst zu betrachten ist‹. In Manila auf den Philippinen hat die Polizei die Besetzung dreier Passagierdampfer durch die Menge nicht verhindern können. Darunter befindet sich der französische Riesendampfer »Normandie«, dessen Passagiere in den Hotels der Stadt Aufnahme gefunden haben. In Conakry in Afrika, Karachi in Pakistan und erneut in Kalkutta sind die Kais von schätzungsweise mehreren Zehntausend Menschen
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