Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
Vom Netzwerk:
Sohn, der irgendwo unterwegs war. Rote Krähe hatte sich dieses Tipi immer wieder und von allen Seiten besehen, ohne es zu berühren oder etwa heimlich zu betreten. Dorothys Sohn sollte, so hatte Rote Krähe von Hanska gehört, ein Geheimnismann sein. Sein Zelt aber war nicht alt, es war neu; es war nicht aus Büffelleder hergestellt, sondern aus maschinegewebtem Stoff, und nicht selbst gefällte und zubereitete Stangen trugen es; es stand nicht auf der Erde, sondern auf einem Kasten, der die Bodenfeuchtigkeit abfing. Alles und jedes an diesem Zelt trug die Merkmale von der Hand der weißen Männer. Die Zeltwände waren nicht bemalt; kein Zauberzeichen hütete die Geheimnisse, die dieses Tipi etwa enthalten konnte. Es war alles sehr merkwürdig. Doch die alte Dorothy hatte ehrliche Augen, einen offenen Blick. Rote Krähe hielt sie nicht für eine Verräterin. Er wollte aber, wenn dies möglich war, mehr über ihren Sohn ergründen.
    Es erwies sich als schwierig, Dorothy zum Reden zu bringen. Seit die Gäste in ihr Haus eingezogen waren, hatte sie sich immer freundlich und hilfsbereit gezeigt, sobald sie um irgend etwas, gebeten wurde, im übrigen aber blieb sie abseits und hatte noch keine drei Worte gesprochen, wenn sie nicht gefragt wurde.
    Zu den besondere Fähigkeiten von Rote Krähe gehörte es, daß er in Menschen hineinschauen konnte. Er wußte, daß Dorothy andere Menschen scheute, vielleicht weil sie sich schämte, vielleicht weil sie sich oder ihren Sohn unverstanden oder verachtet glaubte. Ihr Gesicht verriet, daß sie keine Vollblut-Indianerin sein konnte; ihre Backenknochen waren flach. Das Amulett, das sie trug, zeigte das Symbol des Sternes, aber eines Sternes mit 14 Zacken, den es nicht gab.
    Ein Geheimnismann der Dakota hätte seiner Mutter sagen müssen, daß es keinen Stern mit 14 Zacken gab. Warum hatte er sie das nicht gelehrt?
    Rote Krähe erzählte der alten Dorothy sehr leise von seinem eigenen Stamm, seinem eigenen Land; er berichtete ihr sogar etwas aus seiner Lehre bei dem Geheimnismann der Siksikau – was er selbst Hanska gegenüber noch nie getan hatte und was doch nur den äußeren Kreis der Vorbereitung auf die Geheimnisse betraf. Da begann sich der Stein, zu dem Dorothys Gemüt geworden zu sein schien, zu spalten, und sie sagte zu dem und jenem, was Rote Krähe sie wissen ließ, auch von sich aus dies und jenes, und was sie sagte, wurde immer bedeutsamer. Ihr Sohn war ein Mann, der in die Sonne gesehen und den Sonnentanz bestanden hatte.
    »Bei Crow Dog?« fragte Rote Krähe sehr schnell.
    »Er hat ihn nicht angenommen«, antwortete Dorothy, unwillkürlich ebenfalls rasch, unüberlegt rasch. Sie war überrumpelt. Da sie sich dessen selbst bewußt wurde, stand sie auf und half Hetkala beim Kochen.
    Rote Krähe wußte durch Hanska, daß Crow Dog der Geheimnismann der Aufständischen war. Er hatte Dorothys Sohn nicht als Schüler angenommen. Warum nicht? Rote Krähe bat Hanska mit einem Blick, noch einmal mit ihm hinauszugehen. Es regnete nicht mehr, aber es war schon dunkel, und die. Winde fauchten um den kahlen Berg. Rote Krähe brachte seine Frage vor.
    »Ihr Sohn ist ein zerrissener Mann«, erklärte Hanska. »Er hat in die Sonne gesehen, das ist wahr. Er hat sogar zwei Tage hindurch in die Sonne gesehen, ohne das Augenlicht zu verlieren, das hat es seit Menschengedenken nicht mehr gegeben. Er hat auch den Sonnentanz bestanden, aber er hat ihn allein bestanden, einsam, nicht mit den anderen jungen Männern zusammen. Er hat ihn nicht um unseres Stammes willen bestanden, sondern nur, weil er die Geheimnisse erfahren möchte. Wenn sie sich ihm auftun, wird er sie den Weißen verraten und bei ihnen ein gesuchter Mann sein. Unser Mann ist er nicht geworden. Er verdient viel Geld mit Bildern und nutzt es nur für sich allein, legt Lockenwellen in seine Haare und setzt sich in die Gasthäuser der Weißen, läßt sich dort gut bedienen. Daran hat auch Dorothy schuld. Warum hat sie ihn nicht besser erzogen? Sie schämt sich, und es gibt viele unter uns, die auch sie verachten. Wollte er doch die Biber töten und ihre Felle in der Sonne trocknen.«
    »Würde sie uns verraten?«
    »Sie nicht. Nein, sie nicht. Aber wenn er zurückkäme, müßten wir uns hüten. Hau.«
    Rote Krähe sagte nichts weiter zu dieser Sorge. Aber seine Haltung veränderte sich auf einmal, als ob er aus seiner Umgebung hinausginge, als ob er, obgleich gegenwärtig, doch abwesend sei. Er hob die Arme zum

Weitere Kostenlose Bücher