Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Verteidiger von Zarizyn, gesehen. Sie kroch durch die Keller und schleppte Wasser zu den Frauen und Kindern, die noch immer unter den Trümmern lebten, oft zwischen den Fronten, Tag und Nacht betrommelt von den Granaten.
    »Laßt sie«, sagte Chefchirurg Sukow, als man fragte, ob man eine Meldung darüber machen sollte. »Heute ist man an jeder Stelle wichtig, ob hier oder am Obelisk … die Genossin Pannarewskaja hat bloß den Arbeitsplatz gewechselt.«
    So war es in den ersten Januartagen. Die schwarzhaarige Ärztin lag zwischen den Trümmern und schoß. Unvorstellbar war der Haß, der sie beherrschte, grenzenlos die Grausamkeit, die sich in ihr auftat. Aus einem Täubchen war ein Adler geworden, ein Geier, der nicht auf das Aas wartete, sondern sich auf die Lebenden stürzte. Einer hungernden Wölfin gleich zog sie durch Stalingrad, schön und gnadenlos, in Dreck gebadet, aber mit großen, glänzenden, fast fiebrigen Augen. Wo sie gesehen wurde von deutschen Landsern, gab es nur einen kurzen verwunderten Blick. Dann kam der Tod über sie, gespien aus dem Lauf einer Maschinenpistole.
    Ein einzigesmal wurde sie schwach. Sie schlich durch die Ruinen eines Lagerhauses und stand plötzlich einem jungen deutschen Soldaten gegenüber. Sie waren beide überrascht, sahen sich an und wußten, daß einer von ihnen sterben mußte. Der junge Deutsche saß an einem kleinen Feuer und briet ein Stück Fleisch. Es roch sehr gut, nur die Form des Bratens war ungewöhnlich. Ein schmaler, länglicher Körper, durch den eine Eisenstange gestoßen war. Olga Pannarewskaja zog die Schultern hoch. Er will eine Ratte essen, dachte sie. Er hat Hunger und ißt eine Ratte. Wie jung er ist, und wie vergreist er aussieht. Blonde Haare hat er, blond wie die Weizenfelder in der Ukraine. Und seine Augen liegen tief, der Totenschädel eines Kindes ist es …
    Sie hob die Maschinenpistole. Der junge Deutsche sah in das runde schwarze Loch des Laufes, sah in das Auge des Todes. Nie war er sich bewußt geworden, was es heißt, zu sterben. Solange er im Bunker saß, zwischen den Trümmern hockte, selbst schoß und beschossen wurde, stürmte und kroch, sich eingrub und vorwärtsrobbte, solange er Teil eines Infernos war, hatte er nie darüber nachgedacht, daß er sterben könnte. Aber jetzt wußte er es, jetzt sah er seinen Tod, er sah den Zeigefinger, der sich am Abzug nach hinten bog … da fiel er auf die Knie, hob bettelnd, flehend die Hände und weinte … weinte …
    »Njet …«, heulte er wie ein kleiner Hund, den man getreten hat und der nun seine Pfötchen schüttelt und die Welt nicht mehr versteht, daß man ihn, den Kleinen, trat. »Njet … pashalujsta … njet …« Die Tränen kollerten ihm über die eingefallenen, von hellem Bartflaum überwucherten Wangen. Über dem Feuer brutzelte seine aufgespießte Ratte, das Stückchen Fleisch, auf das er sich wie auf eine Bescherung gefreut hatte. Fleisch, endlich wieder Fleisch nach Tagen voller Wassersuppen und 50 Gramm glitschigem Brot, nach Tagen mit Fladen aus Fußpuder und Sägemehl. Fleisch, und wenn es auch nur eine Ratte war … der Magen hatte sich abgewöhnt, Ekel zu empfinden. Er spürte bloß Hunger, bohrenden, stechenden Hunger, der die Eingeweide glühen ließ.
    »Njet …«, schrie er noch immer. »Njet … mi lostij …« (Gnade).
    Olga Pannarewskaja schoß nicht. Warum, das wußte sie selbst nicht. Sie zeigte auf die schmorende Ratte, und es fror sie wieder über den ganzen Körper.
    »Chotschesch kuschatj?« fragte sie. (Willst du essen?)
    Der Junge nickte. Er sah auf die braungebratene Ratte und schluckte. Hinterher wird sie mich erschießen, dachte er. So grausam sind sie. O mein Gott, mein Gott … Er fiel wieder auf die Knie und hielt sich die Augen zu. So wartete er einige Minuten, aber niemand schoß. Als er die Hände wegnahm, war er allein. Da sprang er auf, ließ seine Ratte über dem Feuer und hetzte durch die Trümmer zurück zu seinem Bunker. Kurz vor dem Kellereingang, an einer flachen Straßenstelle, fiel ein einzelner Schuß. Er traf ihn in den Rücken, schleuderte ihn seitlich auf einen Haufen Steine, er zuckte noch einmal und lag dann still.
    Olga Pannarewskaja sah nach oben zu einem Haus. Dort saß in einer Fensterhöhle ein Scharfschütze. Unter der dicken Lammfellmütze grinsten zwei geschlitzte Augen zu ihr hinab. Er winkte sogar, der kleine Reiter aus der Kirgisensteppe. Sieh, Genossin, so gut kann man bei uns schießen. Ich bin Piotr Kulubaj, und ich

Weitere Kostenlose Bücher