Das Herz der 6. Armee
in einem Granattrichter begraben! Wissen Sie, daß der Russe ungeheure Kräfte an allen Fronten massiert? Rund um den Kessel stehen frische Divisionen, neue Artillerieregimenter, Panzerbrigaden, Stalinorgeln, Werferbataillone, Schützenregimenter. Die Flugzeuge, die noch einfliegen, melden von großen Truppenbewegungen an allen Abschnitten. Es ist eine Frage von Tagen, und auch Sie liegen in einem Loch und schießen.«
»Aber die 4. Panzerarmee, die uns heraushauen soll.« Oberst von der Haagen schwitzte plötzlich. »Und das 48. Panzerkorps … die Armeeabteilung Hollidt … Man hat uns doch beim Armee-Oberkommando gesagt, daß –«
»Die 4. Panzerarmee ist auf dem Rückzug nach Süden, auf den Sal zu, die Armeeabteilung Hollidt ist auf der Flucht zum Donez, das 48. Panzerkorps ist bis Tazinskaja zurückgedrängt worden, mit anderen Worten: Bis zum nächsten deutschen Soldaten außerhalb des Kessels sind es über zweihundert Kilometer Luftlinie! Und dazwischen liegen elf sowjetische Armeen! Nun, von der Haagen, Sie Stratege … wie würden Sie dieses Problem lösen?«
Oberst von der Haagen schwieg konsterniert. Er starrte auf die Karte, er wußte nicht, warum man jetzt das alles sagte.
»Herr General …«, stotterte er. »Wenn ich Herrn General fragen dürfte …«
»Ich möchte etwas fragen: Was ist wichtiger in unserer Lage – ein lebender oder ein toter Arzt?«
Der Kriegsgerichtsrat war der erste, der begriff. Ein Juristengehirn ist geschult für Zwischentöne.
»Natürlich ein lebender, Herr General. Ich möchte zu bedenken geben, daß ich nach dem Gesetz verpflichtet war …«
»Wir alle haben jetzt eine Verpflichtung!« brüllte Gebhardt plötzlich. »Ich setze den Vollzug des Urteils aus! Mir ist ein Dr. Körner, der im Keller von Stalingrad operiert, lieber als ein kraft des Gesetzes Exekutierter! Zugegeben, er hat nicht korrekt gehandelt. Aber ist es korrekt, wenn unser großer Führer dreihunderttausend Männer einfach abschreibt? Von der Haagen, wie denken Sie darüber?!«
»Ich bitte Herrn General –«
»Ich bitte, ich möchte …« General Gebhardt sah auf seine buntbemalte Karte. »Herr Oberst!«
»Herr General.«
»Angesichts der kritischen Lage unserer Truppen und des heroischen Heldenkampfes bis zur letzten Patrone, den unsere tapferen Landser gegen eine Übermacht führen, sehe ich mich nicht mehr in der Lage, meinen Stab weiter in alter Stärke beizubehalten. An der Front wird jedes Gewehr gebraucht. Wo der Tod am Tisch sitzt, hört die Generalstabsarbeit auf. Ich übertrage Ihnen hiermit das seit gestern verwaiste Panzergrenadier-Regiment. Sie wissen, wo sich der Kommandanturstand befindet. Herr Oberst, ich wünsche Ihnen viel Glück in Stalingrad …«
Oberst von der Haagen nahm die Hacken zusammen und grüßte. Seine Hand bebte dabei, seine Augen waren starr.
»Ich darf Herrn General meinen Dank aussprechen.«
»Bitte, bitte. Ihre Siegeszuversicht wird sich auf das Regiment übertragen. Nach den neuesten Bestandsmeldungen beträgt die Regimentsstärke noch sechshundertzweiundvierzig Mann. Sieg Heil!«
Oberst von der Haagen verließ den Bunker. Er ging mit durchgedrückten Knien, steif wie eine aufgezogene Puppe. Erst draußen, in der eisigen Nacht, umheult vom Sturm, gepeitscht vom verharschten Schnee, atmete er tief auf. Und mit diesem Atemzug sog er die Angst in sich hinein.
Das ist das Ende, dachte er. Gott gebe mir die Kraft, jetzt anständig unterzugehen …
Den Tag über lag Gumrak unter den Bomben russischer Störflieger. Außerdem kamen neue Verwundetenkolonnen in das Dorf, armselige Skelette, fiebernd und stöhnend, dem Wahnsinn nahe, nach dem Ausladen im Schnee herumkriechend, denn nirgendwo war mehr Platz für sie. Die Zelte waren überfüllt, die Baracken, die Eisenbahnwaggons. Man zerrte die Sterbenden bereits hinaus in das Eis, man wartete nicht mehr, bis sie gestorben waren … Platz brauchte man, Platz für die, die noch Hoffnung hatten, bis man auch sie wegzerrte, an den Beinen, an den Händen, in den Schnee warf, auch wenn sie schrien und beteten, fluchten und wimmerten, bettelten und weinten.
Knösel war wieder auf Tour.
Während Dr. Portner bei Körner saß, ein glücklicher Vater, der seinen Sohn vom Galgen geschnitten hat, bevor die Schlinge sich zuzog, streifte Knösel durch Gumrak. Sein Ziel, etwas Eßbares zu finden, war unerreichbar. Die Vorräte wurden von Feldgendarmen bewacht, die auf alles schossen, was sich angriffslustig nähern würde.
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